Grundlagen der sozialmedizinischen Beurteilung
Hierzu zählen:
- Diagnosen
- Beschreibung der Funktionsstörungen und daraus resultierende Beeinträchtigungen der Aktivitäten
- Verbindung von Querschnitts- und Längsschnittverlauf
- Ausschöpfung therapeutischer Optionen
- Krankheitsbewältigung
- Beschwerdenvalidierung
- Verbindung von Funktionsstörung, Beeinträchtigung von Aktivitäten mit dem Arbeits- und Sozialleben
- Kriterien zur sozialmedizinischen Prognosebeurteilung
Nähere Informationen zu den o. g. Punkten erhalten Sie auf der Seite "Leitfaden für die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens".
Eine generelle Übersicht zur sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung findet sich unter: www.leistungsbeurteilung-reha.de/.
Medizinische Rehabilitation
- Nach dem Grundsatz "Reha vor Rente" sollte aus gutachterlicher Sicht zu der Frage Stellung genommen werden, ob Leistungen zur medizinischen Rehabilitation geeignet sind, eine ggf. festgestellte Gefährdung der Erwerbsfähigkeit abzuwenden
- Wenn eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit nach gutachterlicher Einschätzung noch nicht besteht, soll im Sinne "Prävention vor Rehabilitation" auch dazu Stellung genommen werden, ob Präventionsleistungen der Rentenversicherung oder der gesetzlichen Krankenversicherung angezeigt sind.
- Aufgrund der speziellen gesetzlichen Regelung (s. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation bei onkologischen Erkrankungen: Gesetzliche Grundlagen) bietet die DRV auch onkologische Rehabilitationen für Altersrentner und Altersrentnerinnen an: Dabei stehen – auch durch häufige altersbedingte Multimorbidität – Aspekte wie die Steigerung der körperlichen Mobilität mit Erhalt der Alltagsautonomie im Mittelpunkt der Rehabilitation..
- Eine fachspezifische urologische Rehabilitationsmaßnahme mit einem multimodalem Kontinenztraining kann eine postoperative Belastungsinkontinenz deutlich mindern oder gar beheben.
- Erst bei Abschluss der multidisziplinären Rehabilitationsbehandlung durch Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Sportwissenschaftler, Psycho-Onkologen, Ernährungsberater, Sozialarbeiter und Uro-Onkologen erfolgt eine umfassende gutachterliche Stellungnahme zur verbleibenden Leistungsfähigkeit.
- Die Notwendigkeit für eine Rehabilitation orientiert sich weniger an dem Tumorstadium oder der Therapie als vielmehr an den physischen und psychischen Funktionsstörungen und den sich daraus ergebenden Beeinträchtigungen.
- Bei ausgeprägten psychomentalen Einschränkungen kann eine spezielle psychosomatische bzw. kombinierte psychoonkologische Rehabilitation indiziert sein.
- Unter www.rehainfo-aerzte.de erhalten Sie weiterführende Informationen.
Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben
- Eine Rückkehr in die bisherige berufliche Tätigkeit ist anzustreben, sofern nicht krankheits- bzw. therabiebedingt Funktionsstörungen und Einschränkungen der Leistungsfähigkeit resultieren (wie unter Beurteilung des qualitativen Leistungsvermögens beschrieben), die mit den Anforderungen im Bezugsberuf (in den meisten Fällen die letzte berufliche Tätigkeit) nicht zu vereinbaren sind. In diesen Fällen kommen LTA-Maßnahmen in Betracht.
- Besonderes Augenmerk sollte hierbei auf Einschränkungen (hinsichtlich Arbeitsschwere, Arbeitshaltung, Außendienst, Notwendigkeit kurzfristiger Toilettenerreichbarkeit) aufgrund einer posttherapeutischen Harninkontinenz bzw. Harnblasenfunktionsstörung gerichtet werden:
- Ebenso sind andauernde psychomentale Einschränkungen zu berücksichtigen
- Voraussetzung für LTA ist, dass eine ausreichende Belastbarkeit, d. h. ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (quantitatives Leistungsvermögen) von mindestens 3 Stunden, vorliegt.
- Ein ausführliches Rahmenkonzept zu Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben von der DRV liegt vor
Leistungsvermögen
Konkrete Beschreibung der Auswirkung der Beeinträchtigung der Aktivitäten auf das Leistungsvermögen:
- Zuletzt ausgeübte Tätigkeit
- Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
- Beruf
Desweiteren zählen dazu:
- Qualitatives Leistungsvermögen
- Quantitatives Leistungsvermögen
- Voraussichtliche Dauer der Leistungseinschränkung
Nähere Informationen zu den o. g. Punkten erhalten Sie auf der Seite "Leitfaden für die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens". Krankheitsspezifische relevante Punkte listen wir Ihnen nachfolgend auf.
Qualitatives Leistungsvermögen
Operative Einflussfaktoren
- Der konventionelle Operationszugang bei der radikalen Prostatektomie ist in der Regel die Laparotomie.
- Mittelschwere und schwere körperliche Belastungen mit Heben und Tragen > 10 kg sind daher wegen der Gefahr der Entwicklung einer Bauchwand-/Narbenhernie für mindestens 3-4 Monate nach der Operation zu vermeiden.
- Bei vielen Alltagsbewegungen bestehen zumindest zeitlich befristet für ca. 3 Monate Einschränkungen für Zwangshaltungen (Heben, Bücken, Strecken, Klettern, Besteigen von Leitern und Überkopfarbeiten).
- Die Gehstrecke auf ebenen Boden ist in der Regel nicht eingeschränkt.
- Sowohl die operativen als auch die strahlentherapeutischen Behandlungsstrategien können zu einer posttherapeutischen Harninkontinenz und Harnblasenfunktionsstörung führen.
- Multicenterstudien zeigen, dass 8-20 % der Patienten mit radikaler Prostatektomie unter einer persistierenden Harninkontinenz leiden.
- Eine fachspezifische urologische Rehabilitationsmaßnahme mit einem multimodalem Kontinenztraining kann eine postoperative Belastungsinkontinenz deutlich mindern oder gar beheben.
- Körperlich schwere Tätigkeiten, die ständig ausgeführt werden müssen, sollten vermieden werden, da eine wieder erreichte Kontinenz gefährdet werden könnte.
- Trotz Verwendung adäquater Kontinenz-Vorlagen kann der unfreiwillige Urinverlust zu Belastungen infolge nötiger Tätigkeitsunterbrechungen und den Uringeruch führen. Daraus ergeben sich möglicherweise Konsequenzen für Tätigkeiten mit ständigem Publikumskontakt bzw. Lehrtätigkeiten.
- Durch einen permanenten Urinkontakt der Haut kann eine chronische Dermatitis bis hin zu Ulzerationen entstehen.
- Die postoperative Harninkontinenz ist neben einer erektilen Dysfunktion (s. u.) der zentrale Auslöser für ein schwindendes Selbstwertgefühl. Häufig resultiert aus diesem Vermeidungsverhalten eine soziale Isolation sowohl im Privatleben als auch am Arbeitsplatz.
- Einschränkungen können durch das Nichtvorhandensein sanitärer Einrichtungen bzw. Toiletten in Arbeitsplatznähe entstehen (z. B. Außendienst, Reisetätigkeit).
- Mögliche assoziierte weitergehende quantitative Einschränkungen werden weiter unten diskutiert.
- Erektile Dysfunktion:
- Eine nerverhaltende Operationstechnik kann eine Beeinträchtigung der Erektionsfähigkeit verhindern und Libido und Orgasmus-Fähigkeit erhalten.
- Eine erfolgreiche penile Rehabilitation bei dennoch resultierenden Erektionsstörungen ist meist durch eine PDE-5-Hemmer-Medikation, intrakavernöse oder intraurethrale Alprostadil-Injektion (SKAT, MUSE) oder den Einsatz von Vakuumerektionshilfen (VEHS) zu erreichen.
- Eine sozialmedizinische Relevanz besitzen die häufig nur zeitlich begrenzten Funktionsdefizite nicht.
Strahlentherapeutische Einflussfaktoren
- Zeitpunkt des Auftretens der Funktionsstörungen und Schweregrad sind abhängig von der Gesamtdosis, dem Volumen des Bestrahlungsfeldes, der Fraktionierung und zeitgleich gegebener Chemotherapie.
- Assoziierte Nebenwirkungen umfassen: Ösophagitis/Pharyngitis, Fatigue, Übelkeit, Kardiomyopathie, Perikarderguss, Myelopathie, Strahlenpneumonitis (2-6 Monate nach Abschluss der Bestrahlung, symptomatisch bei ca. 5-15 % der Patienten: Trockener Reizhusten, Schwäche, respiratorische Störungen bis hin zur Dyspnoe), Lungenfibrose (6-24 Monate nach Abschluss der Bestrahlung: Respiratorische Störungen bis hin zur Dyspnoe, geringe körperliche Belastbarkeit, chronischer Husten, erhöhte Atemfrequenz, Kraftlosigkeit).
- Therapeutisch bedingt können Einschränkungen im Bereich des Sprach- und Sprechvermögen entstehen, die Tätigkeiten mit langem Sprechen oder Telefonieren nur eingeschränkt möglich machen.
Einflussfaktoren durch endokrine Therapie
- Beim metastasierten symptomatischen Prostatakarzinom ist primär die hormonelle Therapie obligat.
- Hormonelle Therapien sind häufig mit Nebenwirkungen (Hitzewallungen, Anämie, Osteoporose, psychomentale Einschränkungen, s. u.) und daraus resultierender Minderung der Lebensqualität verbunden. Assoziierte qualitative Einschränkungen des Leistungsvermögens müssen entsprechend evaluiert werden.
Chemotherapeutische Einflussfaktoren
- Zytostatika-induzierte Polyneuropathie
- Andere langfristig persistierende chemotherapeutische Nebenwirkungen mit sozialmedizinischer Relevanz (z. B. Kardiotoxizität) sind selten und bedürfen der Einzelfallbeurteilung mit ggf. weitergehender fachspezifischer Begutachtung.
Einflussfaktoren durch Antikörper-/Immuntherapie
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- Immuntherapien werden aktuell primär in fortgeschrittenen Erkrankungsstadien eingesetzt, d. h. die sozialmedizinische Beurteilung möglicher qualitativer Einschränkungen des Leistungsvermögens wird meist durch eine vorliegende dauerhafte quantitative Leistungsminderung überlagert.
- Da immuntherapeutische Ansätze jedoch zunehmend auch in potenziell kurative Therapiepläne (z.B. NSCLC Stadium IIIA) integriert werden, ist von einer stetig wachsenden sozialmedizinischen Relevanz dieser speziellen Behandlungsform auszugehen. Es ist daher bedeutsam, das Nebenwirkungsprofil und den Umfang der Reversibilität auftretender Nebenwirkungen der aktuellen fallbezogenen Immuntherapie im Kontext des weiteren Behandlungsplans und der Prognose in die Leistungsbeurteilung zu integrieren.
- Eine Übersicht zu Immuntherapiebedingten Nebenwirkungen findet sich unter: Patientenleitlinie: Was sind Immuntherapie bedingte Nebenwirkungen (www.esmo.org/) ?
Psychomentale Einflussfaktoren
Quantitatives Leistungsvermögen
- Speziell im kurativen Therapiesetting ist das Ausmaß einer vorliegenden posttherapeutische Harninkontinenz bzw. Harnblasenfunktionsstörung im Kontext der Umwelt- und personenbezogenen Faktoren des bio-psychosozialen Modells der ICF führend bei der sozialmedizinischen Beurteilung eventueller quantitativer Einschränkungen des Leistungsvermögens.
- Als Assements vor einer abschließenden sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung sind zur Validierung der Funktionsdefizite die Uroflowmetrie, das Miktionsprotokoll ebenso wie der Pad-Test (in unklaren Fällen 24 Stunden-Pad-Test) nach ICS-Kriterien unverzichtbar. Eine Urodynamik mit Urethradruckprofil-Messung bleibt Fragestellungen zu komplexen Blasenfunktionsstörungen vorbehalten.
- Abschließende sozialmedizinische Beurteilungen unter aktuell andauernden, speziell potenziell kurativen, therapeutischen Maßnahmen sollten vermieden werden.
- Im metastasierten Tumorstadium kann jedoch eine sozialmedizinische Beurteilung unter Umständen vor Abschluss der laufenden Therapie vorgenommen werden.
- Psychomentale Einschränkungen können auch im kurativen Therapiesetting zu temporären Einschränkungen des Leistungsvermögens auf zumindest 3 bis unter 6 Stunden führen. Allerdings sollte - neben der obligatorischen Beschwerdenvalidierung - überprüft werden, inwieweit bisher eine fachspezifische Diagnostik sowie die Einleitung fachspezifischer Therapieoptionen (z. B. ambulante Psychotherapie, psychopharmakologische Medikation, psychosomatische Rehabilitation) erfolgt ist, da unter adäquater Behandlung eine relevante Befundbesserung im auch kurz-/mittelfristigen Verlauf erwartbar ist.
- Im Rahmen der Konsistenzprüfung kann ein Abgleich der geschilderten Beschwerdesymptomatik mit dem aktuellen Karnofsky-Index/ECOG Status in den entsprechenden (uro-onkologischen) Befundberichten hilfreich sein..