Zytostatika-induzierte Polyneuropathie
Die folgende Übersicht reflektiert insbesondere Aspekte der als weiterführende Literatur empfohlenen Publikation "Die sozialmedizinische Bedeutung der Therapie-induzierten Polyneuropathie bei onkologischen Patienten"; Steimann, GMS Onkologische Rehabilitation und Sozialmedizin 2021; Vol. 10; www.egms.de
Definition
- Primär therapiebedingte Schädigungen peripherer Nerven:
- symmetrische, distal betonte, sensible Ausfälle bestimmen das typische Bild.
- motorische Ausfälle oder Veränderungen des vegetativen Nervensystems sind seltener oder treten sekundär hinzu.
Ursachen
- Generalisierte Nervenstoffwechselstörungen:
- am häufigsten durch Chemotherapie (Inzidenz nach Polychemotherapie circa 40 %)
- aber auch durch moderne Biologicals und Immuntherapien
- selten paraneoplastisch
Verlauf - Übersicht
- betroffen sind vor allem die langen sensiblen Nervenfasern:
- Leitsymptome sind deshalb: Missempfindungen (Parästhesien) wie Kribbeln und Nadelstiche, teilweise schmerzhaft (Dysästhesien), oder Taubheit
- das Verteilungsmuster der Beschwerden ist typischerweise symmetrisch, handschuh- oder sockenförmig
- die Ausfälle beginnen körperfern in den Finger- bzw. Zehenspitzen und können zur Körpermitte hin fortschreiten
- Symptome können nach der Beendigung der Tumortherapie zunächst über etwa 3-4 Monate weiter fortschreiten, bevor sie meist wieder abklingen
- eine Persistenz kann sich in Form eingeschränkter Mobilität, chronischen Schmerzen, Kraftdefiziten sowie Störung der Feinmotorik und Propriozeption mit entsprechenden Funktionseinschränkungen darstellen
- Taxane: Vollständige Rückbildung der Beschwerden innerhalb von 9 Monaten bei etwa der Hälfte der Behandelten, jedoch anhaltende Taubheit und persistierende Balance-Defizite möglich
- Platinderivate: Persistenz der Beschwerden in etwa 20 % der Behandelten
- Vincristin: Primär sensible Polyneuropathien in 35-45 % der Patient*innen, weitgehend reversibel
Diagnostik
- Differenzierte neurologische Untersuchung erforderlich: Die Diagnostik sollte eine ausführliche Anamnese mit dem Schwerpunkt der Erfassung relevanter Fähigkeits- und Funktionsstörungen umfassen, vorzugsweise mit Nennung von Beispielen (wie Knöpfe schließen / öffnen, Schuhe zubinden). Gegebenenfalls ist auch eine fachspezifische neurologische und weiterführend eine neurophysiologische Diagnostik erforderlich.
- Eine detaillierte Beschreibung des Schweregrades gemäß den relevanten CTCAE-Kriterien ist hilfreich und sollte zwischen der motorischen und der sensiblen Neuropathie sowie neuropathischen Schmerzen differenzieren.
- Zur Erhebung der subjektiven Beschwerden stehen verschiedene Fragebögen zur Verfügung, z.B. EORTC-QLQ-CIPN20.
Sozialmedizinische Beurteilung - Hinweise
- Keinesfalls sollte die Beurteilung zu früh und vor Ausschöpfung ergotherapeutischer Trainingsmöglichkeiten erfolgen.
- Ist ein chronischer Verlauf eingetreten, müssen die alltags- und beruflichen Einschränkungen in Betracht gezogen werden - speziell Gangsicherheit (Wichtig: Gangunsicherheit bei mäßiger Polyneuropathie kann visuell kompensiert werden.), Greif-/Haltefunktion der Hände, Einschränkungen des Schriftbildes/der PC-Arbeit, Störungen der Merkfähigkeit/Konzentration/Aufmerksamkeit.
- Ggf. sollte eine fachspezifische neurologische Begutachtung vor einer abschließenden sozialmedizinischen Leistungsbeurteilung erwogen werden.
- Mögliche funktionelle Einschränkungen:
- Füße → bei längerem Gehen bzw. Stehen, bei der Trittsicherheit, bei Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, bei der Stand-/Gangsicherheit
- Hände → beim Schreiben, bei Computerarbeiten (Tastatur), bei feinmotorischen Arbeiten, bei Drehbewegungen, beim sicheren Halten von Werkzeugen/Gegenständen
- Hinweise bezüglich der sozialmedizinischen Relevanz in Abhängigkeit vom Schweregrad der Schädigung sind in der folgenden Tabelle ersichtlich:
Tabelle: Einteilung der sensorischen Neuropathie anhand der "Common Toxicity Criteria" (CTC) des National Cancer Institute (NCI)
Quelle: König & Rick, GMS Onkologische Rehabilitation und Sozialmedizin 2014; Vol. 3; www.egms.de/
- Bei unklarer Befundlage kommt grundsätzlich eine Arbeitserprobung in Betracht, ggf. unter Einbeziehung des zuständigen Betriebsarztes.
- ggf. Prüfung einer stufenweisen Wiedereingliederung in das Erwerbsleben
- ggf. leidensgerechte Umgestaltungen des Arbeitsplatzes bzw. Möglichkeiten unterstützender Hilfsmittel
- ggf. weitergehende Qualifizierungsmaßnahmen oder Umschulungen
- besondere sozialmedizinische Herausforderung bei persistierender/schwerwiegender Schädigung: Beurteilung der Geh-/Wegefähigkeit bzw. die Fähigkeit zur Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sowie ggf. der Fahrtüchtigkeit bzw. das Führen von Maschinen
Krebsbedingte kognitive Dysfunktion
Die folgende Übersicht reflektiert insbesondere Aspekte der als weiterführende Literatur empfohlenen Publikation "Die sozialmedizinische Bedeutung der kognitiven Dysfunktion bei onkologischen Patienten" (Rick, GMS Onkologische Rehabilitation und Sozialmedizin 2020, www.egms.de
Definition
Die kognitive Dysfunktion bei onkologischen Erkrankungen ist eine kurzfristige, langfristige oder auch dauerhafte funktionelle Störung der
- Aufmerksamkeit
- Konzentrationsfähigkeit
- Denkprozesse
- Gedächtnisleistung (insbesondere Kurzzeitgedächtnis)
- Lernfähigkeit
- Fähigkeit, komplexe Aufgaben auszuführen
Häufigkeit
- bis zu 75 % der Krebspatienten, insbesondere Patientinnen mit Brustkrebs
- nach einer Chemotherapie klagen im Langzeitverlauf ~15 bis 45 % der Patienten über kognitive Einschränkungen
Ursachen und Risikofaktoren
- Multifaktorielles Geschehen:
- Tumorerkrankung (Ausmaß, Prognose)
- Antitumortherapie (insbesondere Zytostatika, aber auch Radiotherapie, Operation)
- psychische Konstellation
- genetische Bedingungen
- kognitive Reserve
→ Zusammenspiel dieser Komponenten bedingt den Schweregrad
Diagnostik
- standardisierte Diagnostik bislang nicht etabliert, mögliche Optionen umfassen neuropsychologische Testungen, Fragebögen
- differentialdiagnostische Abgrenzung von einer dementiellen Hirnleistungsstörung notwendig → regelhaft mittels gezielter Erhebung der Eigen- bzw. Fremdanamnese
- Schweregradeinteilung gemäß CTCAE:
Tabelle: Störungen des Nervensystems | |||||
CTCAE Term |
Grad 1 |
Grad 2 |
Grad 3 |
Grad 4 |
Grad 5 |
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Kognitive Störung |
Leichte kognitive Behinderung; keine Beeinträchtigung der Leistung bei Arbeit/Schule/ Leben; keine besonderen Schulungsangebote/Hilfsmittel erforderlich |
Mittlere kognitive Behinderung; Beeinträchtigung der Leistung bei Arbeit/Schule/Leben, aber Fähigkeit selbstständig zu leben, spezialisierte Ressourcen auf Teilzeitbasis erforderlich |
Schwere kognitive Behinderung; erhebliche Beeinträchtigung der Leistung bei Arbeit/ Schule/Leben |
- |
- |
Definition: Eine Störung, die durch eine auffällige Veränderung der kognitiven Funktion gekennzeichnet ist. | |||||
Beeinträchtigung der Konzentration |
Leichte Unaufmerksamkeit oder vermindertes Konzentrationsvermögen |
Mäßige Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit oder vermindertes Konzentrationsniveau; anspruchsvollere Aktivitäten des täglichen Lebens einschränkend |
Schwere Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit oder vermindertes Konzentrationsniveau; die Selbstversorgung/ grundlegende Aktivitäten des täglichen Lebens einschränkend |
- |
- |
Definition: Eine Störung, die durch eine Verschlechterung der Konzentrationsfähigkeit gekennzeichnet ist. | |||||
Quelle: Rick, GMS Onkologische Rehabilitation und Sozialmedizin 2020; www.egms.de |
Sozialmedizinische Beurteilung - Hinweise
- Zusammenfassende Empfehlungen:
- Tätigkeiten, die keine erhöhten oder besonderen Anforderungen an die Aufmerksamkeit, Konzentrations- und/oder Lernfähigkeit stellen, können bei CTCAE Grad 1 oder 2 vollschichtig ausgeübt werden.
- Tätigkeiten, die erhöhte Anforderungen an Aufmerksamkeit, Konzentrations- und/oder Lernfähigkeit stellen, sind bei CTCAE Grad 1 oder 2 meist nur eingeschränkt ausübbar.
- Bei CTCAE Grad 3 erscheinen auch Tätigkeiten mit nur geringen Anforderungen an die kognitive Funktion nicht mehr möglich.
- Der zeitliche Verlauf bleibt allerdings zunächst abzuwarten, da sich innerhalb von 6-9 Monaten nach Therapieende deutliche Verbesserungen der Hirnleistung einstellen können.
Tumor-assoziierte Fatigue
Die folgende Übersicht reflektiert hinsichtlich Diagnose, Häufigkeit, Beschwerden, Ursachen und Therapie insbesondere die als weiterführende Literatur empfohlenen entsprechenden Informationen der Deutschen Krebsgesellschaft (Tumor-assoziierte Fatigue, www.krebsgesellschaft.de/)
Zusätzliche Informationen (Englisch)
Cancer-related fatigue – ESMO Clinical Practice Guidelines (www.annalsofoncology.org/)
Definition
- Zustand außerordentlicher Müdigkeit und mangelnder Energiereserven, der in Bezug auf die vorangegangenen Aktivitäten unverhältnismäßig ist und selbst nach angemessenen Ruhepausen nicht verschwindet
- Tritt eine solche anhaltende Erschöpfung im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung und deren Behandlung auf, wird sie als Tumor-assoziierte Fatigue bezeichnet
- Abzugrenzen ist das sog. Chronische Fatigue-Syndrom, bei dem keine einzelne körperliche Grunderkrankung als Ursache auszumachen ist
Häufigkeit
- Kann zu jedem Zeitpunkt der Krebserkrankung auftreten -als frühes Zeichen noch vor der Diagnose, während der Therapie, bei einem Rückfall oder sogar noch Jahre, nachdem eine Behandlung erfolgreich abgeschlossen wurde.
- Die Beschwerden können nach einer gewissen Zeit wieder verschwinden oder länger anhalten.
- Befragungen legen nahe, dass schon bei der Aufnahme in die Klinik ein Drittel der Krebspatient*innen Müdigkeits- und Erschöpfungssymptome verspürt.
- Noch Jahre, nachdem die Krebstherapien beendet sind, leiden vermutlich bis zu 30 % der Patient*innen unter anhaltenden Fatigue-Beschwerden
Beschwerden
- Das Beschwerdebild ist vielgestaltig, die häufigsten Beschwerden sind:
- Müdigkeit, fehlende Energie und/oder ein unverhältnismäßig gesteigertes Ruhebedürfnis
- Gefühl einer allgemeinen Schwäche oder Gliederschwere
- Konzentrationsstörungen
- Mangel an Motivation, den normalen Alltagsaktivitäten nachzukommen
- Schlaflosigkeit oder übermäßiges Schlafbedürfnis
- Erleben des Schlafes als wenig oder gar nicht erholsam
- Gefühl, sich zu jeder Aktivität zwingen zu müssen
- Ausgeprägte emotionale Reaktionen auf die Erschöpfung (zum Beispiel Niedergeschlagenheit, Reizbarkeit, Frustration)
- Schwierigkeiten, den Alltag zu bewältigen
- Störungen der Merkfähigkeit
- Nach körperlicher Anstrengung mehrere Stunden andauerndes Unwohlsein
Ursachen
- Multifaktorielle Pathogenese:
- Tumor (→ Beeinflussung des Stoffwechsels, hormoneller Prozesse und des Immunsystems)
- Therapien (→ Schätzungen zufolge bis zu 90 % der Patient*innen unter Chemotherapie, 60-80 % unter Strahlentherapie, 15-40 % unter Immuntherapie, kurzfristig (bis zu 3-4 Wochen) nach Operationen)
- erbliche Veranlagung
- körperliche oder psychische Begleiterkrankungen
- verhaltens- und umweltbedingte Zustände
→ meist kann keine alleinige psychosoziale oder körperliche Ursache identifiziert werden
Diagnostik
Empfehlung alle Krebspatient*innen während der Therapie und Nachsorge in regelmäßigen Abständen, mindestens aber einmal pro Jahr, nach Müdigkeits- und Erschöpfungssymptomen mittels standardisierter Fragebögen (z.B. BFI, MFI, EORTC QLQ-FA13) zu befragen.
Therapie
- möglichst frühzeitiger Behandlungsbeginn → Vorbeugung einer Chronifizierung
- Therapie vielgestaltig, orientiert an den Ursachen, der individuellen Ausprägung der Beschwerden, dem Ausmaß der funktionellen Beeinträchtigung und den Vorstellungen der Betroffenen:
- Information/Beratung
- Behandlung bekannter Ursachen (z.B. Anämie)
- Bewegung, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf
- Eine spezifische medizinische Rehabilitation sollte ggf. erfolgen: Diese hat mit ihrem umfassenden, multimodalem Behandlungsansatz einen bedeutenden therapeutischen Stellenwert.
Sozialmedizinische Beurteilung - Hinweise
- Herausforderung: Hoher Grad der Subjektivität, unterschiedliche Standards der Assessment-Instrumente.
- Empfehlung wiederholter Begutachtungen bei erwartbarer Veränderbarkeit der Ausprägung der Symptomatik im zeitlichen Verlauf.
- Eine gering ausgeprägte Fatigue begründet in der Regel keine Einschränkung des quantitativen Leistungsvermögens.
- Je nach Ausprägungsgrad können qualitative Einschränkungen des Leistungsvermögens (→ Arbeiten mit übermäßigem Zeitdruck/Akkord sowie Arbeiten mit erhöhten Anforderungen an das Konzentrations-/Reaktions-/Umstellungs-/Anpassungsvermögen) vorliegen.
- Im Zweifelsfall ist eine fachpsychiatrische Begutachtung zur differentialdiagnostischen Abklärung, Abgrenzung (→ speziell Depression) und Beurteilung psychomentaler Funktionsstörungen angezeigt. In diesem Rahmen sollte idealerweise auch eine aktuelle Verlaufsüberprüfung der Fatigue-Diagnose und des Schweregrades erfolgen.
Verarbeitungs- und Anpassungsstörungen
- Psychische Verarbeitungs- und Anpassungsstörungen stellen eine große Herausforderung in der sozialmedizinischen Beurteilung dar:
- Häufig bestehen bei den Patient*innen trotz erfolgreich durchgeführter potenziell kurativer Tumortherapie signifikante Rezidivängste, vereinzelt aber auch ausgeprägte posttherapeutische Erschöpfungszustände.
- Zumindest temporäre Einschränkungen hinsichtlich Arbeiten mit übermäßigem Zeitdruck/Akkord sowie Arbeiten mit erhöhten Anforderungen an das Konzentrations-/Reaktions-/Umstellungs-/Anpassungsvermögen sind nicht auszuschließen.
- Auch die Steuerung/Überwachung komplexer Arbeitsvorgänge und Arbeiten mit umfangreichem Publikumsverkehr können eingeschränkt sein.
- In dieser Hinsicht sollten fachspezifische Befundberichte der mitbehandelnden Neurologen/Psychiater/Psychologen sowie ggf. eine entsprechende fachspezifische Zusatzbegutachtung in die sozialmedizinische Beurteilung mit einbezogen werden.
Weiterführende Literatur
"Sozialmedizinische Beurteilung psychischer Folgen von Krebserkrankungen"; Stohscheer et al., GMS Onkologische Rehabilitation und Sozialmedizin 2021; Vol. 10; www.egms.de