Deutsche Rentenversicherung

Somatoforme Störungen

Sozialmedizinische Beurteilung
Stand: 18.07.2024

 

Sozialmedizinische Beurteilung

  • Die sozialmedizinische Beurteilung erfolgt auf Grundlage der vorhandenen Befunde inklusive einer detaillierten Erfassung des Tagesablaufes. Die Sachaufklärung dient entsprechend der ICF vornehmlich der Klärung der Funktionsstörungen und der damit verbundenen Störungen auf der Ebene der Aktivitäten sowie den daraus resultierenden Einschränkungen in Bezug auf die Teilhabe. Sie umfasst ebenso die Kontextfaktoren.
  • Die Sachaufklärung soll so ausgerichtet sein, dass eine Aussage über das quantitative und qualitative Leistungsvermögen getroffen werden kann.
  • Für die Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung stellt die "anhaltende Schmerzstörung" (F45.4-) mit ihrer i. d. R. multifaktoriellen Entstehung und Aufrechterhaltung, mit der Problematik der Beschwerdenvalidierung und mit hohem Chronifizierungsrisiko eine sozialmedizinisch-gutachterliche Herausforderung dar:

    • Die Beurteilung des Leistungsvermögens ist komplex, wobei v. a. die Schwierigkeit der Objektivierung von Schmerzen und der daraus abzuleitenden manifesten Beeinträchtigungen der Teilhabe die Begutachtung erschwert.

    • Fragebögen und Selbsteinschätzungsskalen zu Schweregrad und Chronifizierung von Schmerzen können hier zwar die Exploration unterstützen, sie sind jedoch nur im Kontext aller erhobenen Befunde im Sinne einer Konsistenz-prüfung und keinesfalls als Beweis vorhandener Beeinträchtigungen zu interpretieren.

    • Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen spielen in der Begutachtung von Proband*innen mit einer anhaltenden Schmerzstörung eine bedeutsame Rolle, getriggert u. a. durch ein meist einseitig somatisches Krankheitsverständnis und eine nicht selten anzutreffende passiv-ängstliche Schon- und Erwartungshaltung.

    • In der Begutachtungssituation kommt es darauf an, dem/der Proband*in zu signalisieren, dass seine/ihre Beschwerden ernst genommen werden, unabhängig von möglicherweise unterschiedlichen Auffassungen zu ihrer Entstehung und den Konsequenzen.

    • Gutachterlich sind
      • einerseits die individuellen Beeinträchtigungen des/der Begutachteten detailliert zu erfassen, konkret und teilhabebezogen zu benennen und zu dokumentieren und
      • andererseits muss eine Stellungnahme dazu abgegeben werden, ob die begutachtete Person in der Lage ist, die vorhandenen Beschwerden zu überwinden oder so weit zu kompensieren, dass eine Teilhabe am Erwerbsleben möglich ist.

    • Die Teilhabe am täglichen Leben (Familie, Beruf und Freizeit) ist oft erheblich beeinträchtigt durch
      • die Art und Ausprägung der Symptome sowie
      • das daraus resultierende Schonverhalten bei gleichzeitiger ausschließlich somatischer Ursachenattribution.
      • Es kann zu sozialem Rückzug bis hin zur Isolation kommen, v. a., wenn dies durch ein entsprechendes Umfeld begünstigt wird

 
 

Grundlagen der sozialmedizinischen Beurteilung

Hierzu zählen:

  • Diagnosen
  • Beschreibung der Funktionsstörungen und daraus resultierende Beeinträchtigungen der Aktivitäten
  • Verbindung von Querschnitts- und Längsschnittverlauf
  • Ausschöpfung therapeutischer Optionen
  • Krankheitsbewältigung
  • Beschwerdenvalidierung
  • Verbindung von Funktionsstörung, Beeinträchtigung von Aktivitäten mit dem Arbeits- und Sozialleben
  • Kriterien zur sozialmedizinischen Prognosebeurteilung

Nähere Informationen zu den o.g. Punkten erhalten Sie auf der Seite "Leitfaden für die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens".

 
 

Medizinische Rehabilitation

Die Einschätzung von Rehabilitationsbedarf, Rehabilitationsfähigkeit, Rehabilitationsprognose erfolgt unter Berücksichtigung der unter Grundlagen der sozialmedizinischen Beurteilung genannten Punkte. Für die Bewilligung einer psychosomatischen Rehabilitation ist die abgeschlossene fachspezifische Diagnostik sowie eine vorausgegangene störungsspezifische Behandlung Voraussetzung. Rehabilitationsbedarf liegt dann vor, wenn die fachärztliche / psychotherapeutische leitliniengerechte störungsspezifische Behandlung nicht ausreichend und eine multimodale interdisziplinäre gruppenorientierte Behandlung einer medizinischen Rehabilitation (§ 10 SGB VI) erforderlich ist.

Psychosomatische Rehabilitation

  • Die funktionellen Beschwerden können zum Fokus der Behandlung werden, müssen es aber nicht.
  • Nicht selten hat eine andere Problematik Vorrang in der Rehabilitation, z. B. eine komorbide psychische Diagnose oder eine besondere berufliche Problemlage.
  • Bewegungstherapeutische oder physiotherapeutische Maßnahmen oder Entspannungsverfahren (z. B. progressive Muskelrelaxation nach Jacobson) bieten den Patient*innen verschiedene Möglichkeiten, sich körperlich differenzierter und in neuer Weise zu erleben
    • beispielsweise können so ggf. bisher beunruhigende Körperwahrnehmungen oder Befindlichkeitsstörungen in neue Erfahrungszusammenhänge gebracht werden, somit können die Patient*innen ggf. ein besseres Verständnis für sich bzw. ihre Körperfunktionen entwickeln.
      • Hierbei gilt die Regel: "Alles, was mit den Patient*innen gemacht wird, erhöht kurzfristig die Zufriedenheit, fördert aber auch die Chronifizierung. Alles, was die Patienten lernen, selbst für sich zu tun, verbessert die langfristige Prognose."
  • Für die Psychotherapie kann es sinnvoll sein, den Fokus der Behandlung nicht auf die körperlichen Beschwerden zu legen, sondern während der Gespräche ohne Bezug zu den Körpersymptomen Konflikte oder Verhaltensmuster (z. B. symptom-auftrechterhaltendes Schon- und Vermeidungsverhalten) therapeutisch zu bearbeiten.
  • Therapieprinzipien bei chronischen Schmerzsyndromen:
    • Kritische Überprüfung von Analgetikatherapien.
    • Psychoedukation (Erläuterung eines bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells i. S. einer Vermittlung neurobiologischer bzw. entwicklungspsychologischer Zusammenhänge zwischen Schmerz und Stress).
    • Psychotherapie: Herausarbeiten individueller Ursachen der Schmerzstörung, Erörterung dysfunktionaler Verhaltensmuster für die individuelle Stress- und Schmerzverarbeitung (z. B. symptom-aufrecht-erhaltendes Schon- und Vermeidungsverhalten)
    • Gruppenpsychotherapie: z. B. Schmerzbewältigungstraining, interaktionelle Gruppentherapieangebote.

Rehabilitationsbedarf

  • Wenn eine relevante rehabilitations-bedürftige somatische Erkrankung vorliegt, sollte versucht werden, den/die Versicherten* für eine Rehabilitation in einer Einrichtung zu motivieren, die in ihrem Konzept körperliche und psychische Aspekte gleichermaßen berücksichtigt i. R. einer VOR (= verhaltensmedizinisch orientierten Rehabilitation) und in der ggf. mehrere Fachabteilungen unter einem Dach vereint sind (duale Rehabilitation).
  • Eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation in einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Rehabilitationseinrichtung ist v. a. bei den Versicherten angezeigt, bei denen die psychische Verarbeitung im Vordergrund steht und die trotz adäquater ambulanter Behandlung einschließlich Psychotherapie Beeinträchtigungen der Teilhabe aufweisen (z. B. diagnostisch weitgehend abgeklärtes Colon irritabile und F45.X von fachärztlicher/fachpsychotherapeutischer Seite diagnostiziert).
  • Bei Vorliegen einer Abhängigkeit von psychotropen Substanzen bzw. Medikamenten, beispielsweise Schmerzmitteln, ist auch die Indikation für eine Entwöhnungsbehandlung zu prüfen.
    • Sofern eine solche nicht angezeigt ist, sollte die Rehabilitation jedoch in einer Einrichtung mit entsprechender spezifischer Kompetenz stattfinden.

Rehabilitationsfähigkeit

Die Rehabilitationsfähigkeit bei somatoformen Störungen ist in der Regel gegeben, wenn folgende Aspekte erfüllt sind:

  • keine Symptomausprägung der Störung, die die Rehabilitationsleistung stark beeinträchtigt
  • hinreichende psycho-mentale Belastungsfähigkeit
  • keine akute psychotische Symptomatik
  • keine gravierende Suchtmittelproblematik
  • keine stärkeren kognitiven Störungen
  • keine akute Suizidalität
  • keine Fremdgefährdung
  • hinreichende Gruppenfähigkeit
  • ausreichende Motivation zur Teilnahme an der Rehabilitation.

An somatoforme Störungen erkrankte Menschen mit einem hohen Bedarf an Einzelpsychotherapie, aufgehobener Gruppenfähigkeit, akuter Suizidalität können in einer Rehabilitationseinrichtung nicht hinreichend behandelt werden. In diesem Fall ist die Notwendigkeit einer stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Krankenhausbehandlung zu prüfen. Betroffene ohne ausreichendes Psychogeneseverständnis und ohne jegliche psychotherapeutische Vorerfahrung sind für eine psychosomatische Rehabilitation primär meist nicht motiviert.

Rehabilitationsprognose

Die Einschätzung der Rehabilitationsprognose zielt darauf ab, ob durch die medizinische Rehabilitation

  • bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit abgewendet werden kann oder
  • bei bereits eingetretener Minderung der Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wesentlich gebessert oder wiederhergestellt
  • oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann.

 

Eine positive Rehabilitationsprognose ist gegeben, wenn

  • die Einschätzung besteht, dass die Störungen der Aktivitäten durch die rehabilitative Maßnahme veränderbar sind.
  • trotz der Störungen der Aktivitäten das Rehabilitationsziel (einer positiven Beeinflussung der Erwerbsfähigkeit) der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht werden kann.
  • Kompensationsmöglichkeiten zum Ausgleich der Störung der Teilhabe hinreichend umsetzbar sind.

 
 

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind Teilhabeleistungen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, beruflichen Anpassung, Berufsvorbereitung, Fort- und Weiterbildung, Ausbildung und Qualifizierung sowie finanzielle Hilfen.

Welche Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben in Betracht kommt, ist abhängig vom individuellen Unterstützungsbedarf unter Berücksichtigung der Belastbarkeit und der individuellen Einschätzung der begutachteten Person. Um diese einschätzen zu können, bedarf es der Kenntnis der Situation am Arbeitsplatz und der individuellen Anforderungen am Arbeitsplatz.

Werden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erwogen, sollte auf die beruflichen Vorerfahrungen und die persönlichen Ressourcen der Person eingegangen werden.

Dabei ist abzuwägen, ob Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes vorrangig sinnvoller sind als aufwändige Qualifizierungsmaßnahmen. Eine Leistung zur Berufsförderung ist mit einer recht hohen Belastbarkeit verbunden und setzt eine gute psychische Stabilität voraus.

Bei geringer Ausprägung, günstigem Krankheitsverlauf, guter Krankheitsbewältigung sind bei Agoraphobie meistens keine Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich. Sollte eine Agoraphobie im beruflichen Zusammenhang zu Beeinträchtigungen im Kontext der Erwerbsfähigkeit führen, kommen gegebenenfalls Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben in Betracht.

 
 

Leistungsvermögen

Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit muss in der Zusammenschau aller Befunde und Informationen unter Berücksichtigung von ICF bzw. Mini-ICF erfolgen. Dies umfasst die konkrete Erfassung der Funktionsstörungen und deren Auswirkungen auf die Aktivitäten sowie die damit verbundenen Einschränkungen in der Teilhabe am Erwerbsleben.

Die Prognose ist unter folgenden Konstellationen als insgesamt positiv einzuschätzen:

  • stabile Primärpersönlichkeit
  • geringerer Ausprägungsgrad der Symptomatik.

Bei einer somatoformen Störung mit gegebenenfalls einer chronischen Entwicklung kann sowohl das qualitative als auch das quantitative Leistungsvermögen beeinträchtigt sein. Hier spielen unter anderem weitere folgende Aspekte eine Rolle:

  • Krankheitsbewältigung
  • soziale Unterstützung
  • psychische / somatische Komorbiditäten.

Da Störungen der Körperstrukturen, die eine Leistungsminderung begründen, in den meisten Fällen nicht bestehen, spielt die sorgfältige Erhebung der Anamnese einschließlich eines üblichen Tagesablaufes und des psychischen Befundes eine herausragende Rolle, um

  • einerseits zur Einschätzung des Schweregrades der Teilhabebeeinträchtigung beitragen,
  • andererseits können daraus Hinweise auf motivationale Aspekte des Krankheitsverhaltens gewonnen werden.

Dies ist im Hinblick auf die Beurteilung eines sekundären Krankheitsgewinns und für die Abgrenzung gegenüber Aggravation und Simulation von Bedeutung.

Auswirkung der Beeinträchtigung der Aktivitäten auf das Leistungsvermögen

  • Bei Menschen mit somatoformen Störungen sind in der Regel keine erheblichen Beeinträchtigungen des Leistungsvermögens zu erwarten.
  • Das Leistungsvermögen kann bei somatoformen Störungen durch folgende Gegebenheiten des Einzelfalls negativ beiinflusst werden:
    • Schweregrad,
    • Verlauf
    • Chronifizierung
  • Bei ungünstigem Verlauf können insbesondere die folgenden tätigkeitsbezogenen Aspekte einzeln oder in Kombination beeinträchtigt sein:
    • besondere Anforderungen an geistige und psychische Belastbarkeit
    • pädagogische/soziale/therapeutische Tätigkeiten
    • vorwiegend Publikumsverkehr
    • häufige Reisetätigkeit und Außendienst
    • besonderer Zeitdruck.
  • Eine mögliche allgemeine psychische Minderbelastbarkeit kann sich u. a. in einer verminderten Fähigkeit im Umgang mit außergewöhnlichen, schwierigen oder konflikthaften Situationen äußern. Das Ausmaß einer psychischen Minderbelastbarkeit ist bedeutsam für die Einschätzung des Leistungsvermögens sowohl in Bezug auf die letzte berufliche Tätigkeit als auch für den allgemeinen Arbeitsmarkt und eine eventuell angestrebte berufliche Alternative.
  • Meist bestehen höchstens qualitative Einschränkungen des Leistungsvermögens ohne erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit, die i. d. R. unter günstigen Rahmenbedingungen (zum Beispiel adäquate Behandlung, intaktes soziales Umfeld) gut kompensiert werden können.
  • Wenn quantitative Einbußen der Leistungsfähigkeit bestehen, sind diese nicht selten auf das Vorliegen einer psychischen Komorbidität, beispielsweise einer komplexen PTBS, Persönlichkeitsstörung, einer depressiven Störung oder eines schädlichen Gebrauchs psychotroper Substanzen zurückzuführen.
  • Bei weitgehender Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Teilhabe an den Aktivitäten des täglichen Lebens, beispielsweise in den Bereichen Mobilität, Selbstversorgung, Kommunikation sowie bei erheblichem sozialem Rückzug ist von einer Minderung sowohl des qualitativen als auch des quantitativen Leistungsvermögens auszugehen.

Die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung bezieht sich auf die

  • Zuletzt ausgeübte Tätigkeit
  • Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
  • Beruf

Desweiteren zählen dazu:

  • Qualitatives Leistungsvermögen
  • Quantitatives Leistungsvermögen
  • Voraussichtliche Dauer der Leistungseinschränkung.

Nähere Informationen zu den o. g. Punkten erhalten Sie auf der Seite "Leitfaden für die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens".

Voraussichtliche Dauer der Leistungseinschränkung

  • Prüfung, ob eine Besserung der Leistungsfähigkeit wahrscheinlich ist
  • Dies ist anzunehmen, wenn aus ärztlicher Sicht bei Betrachtung des bisherigen Verlaufes nach medizinischen Erkenntnissen unter Berücksichtigung der noch vorhandenen therapeutischen Optionen eine Steigerung des qualitativen und/oder quantitativen Leistungsvermögens noch möglich ist
  • Zeitliche Befristung der Renten aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit für längstens 3 Jahre nach Rentenbeginn