Deutsche Rentenversicherung

Somatoforme Störungen

Krankheitsbild, Anamnese, Diagnostik, Therapie, Krankheitsverlauf und Prognose
Stand: 18.07.2024

 

Störungsspezifische Beschreibung

Somatoforme Störungen sind gemäß ICD-10-Definition charakterisiert durch

  • Eine subjektive Beeinträchtigung in Form unterschiedlicher anhaltender oder häufig wiederkehrender körperlicher Beschwerden kombiniert mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz negativer Untersuchungsergebnisse und der Versicherung von Ärzt*innen, dass die Symptome nicht hinreichend körperlich begründbar sind.
  • Wenn körperliche Funktionsstörungen bzw. Erkrankungen vorhanden sind, erklären diese nicht Art und Ausmaß der Symptome, das Leiden und die emotionale Beteiligung der Betroffenen.
  • Es können sich zusätzliche tatsächlich behandlungsbedürftige körperliche Krankheiten einstellen, so dass insbesondere bei Schilderung veränderter oder neuer Beschwerden die Notwendigkeit erneuter Untersuchungen immer sorgfältig abzuwägen ist.

Symptomatik

Die einzelnen Ausprägungen innerhalb der diagnostischen Sammelkategorie "Somatoforme Störungen" sind gekennzeichnet entweder durch

  • multiple körperliche Symptome,
  • eine eng umschriebene körperbezogene Symptomatik oder
  • primär dominierende psychische Merkmale.

Am häufigsten werden Schmerzen und Allgemeinsymptome wie Müdigkeit und Erschöpfung beklagt.

Somatoforme Störungen (F45.-) 

In der ICD-10 werden unter Somatoforme Störungen (F45.-) aufgeführt:

  • Somatisierungsstörung (F45.0)
  • Undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1) als leichtere Form letzterer
  • Hypochondrische Störung (F45.2)
  • Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3)
  • Anhaltende Schmerzstörung (F45.4)
  • Sonstige somatoforme Störungen (F45.8)

Information zur ICD-11
I.R. der ICD-11-Einführung ist eine grundlegende Revision der bisherigen Diagnosekategorie "Somatoforme Störungen" vorgesehen als "Bodily distress disorder" (ICD-11 6B5), was übersetzt "Somatische Belastungsstörung" bedeutet.

In der 2018 revidierten S3-Leitlinie der AWMF wurde aus verschiedenen Gründen für die Kategorie Somatoforme Störungen der Überbegriff "Funktionelle Körperbeschwerden" gewählt:

  • Dieser Begriff beschreibt ein breites Spektrum an Beschwerden und Schweregraden von vorübergehenden Befindlichkeitsstörungen über so genannte "medically unexplained (physical) symptoms (MU(P)S)" bis hin zu kriteriengemäß ausgeprägten somatoformen Störungen, sog. funktionellen Syndromen (z. B. Reizdarmsyndrom, Kraniomandibuläre Dysfunktion) oder verschiedenen Arten unklarer Schmerzen (z. B. chronische nichtspezifische Rücken-, Gesichts-, oder myofasziale Schmerzen).
  • Er spiegelt den internationalen Sprachgebrauch wider.
  • Als positiv formulierter Begriff erlaubt dieser Behandler*innen und Patient*innen ein hilfreiches pathogenetisches Verständnis: Bei funktionellen Körperbeschwerden ist überwiegend nicht die Struktur, sondern die Funktion von Organen (einschl. Haltungs- und Bewegungsorganen) beeinträchtigt.
  • Dieser Begriff wird von Betroffenen bevorzugt.

Informationen zu den unterschiedlichen Störungsbilder

Die folgende Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit entsprechend der gesamten zur Diagnosestellung erforderlichen ICD-Kriterien, zur konkreten Diagnosestellung verweisen wir beispielsweise auf: Tabelle KLINISCHE ENTSCHEIDUNGSHILFE: Klassifikation funktioneller Körperbeschwerden in der AWMF-S3-Leitlinie Funktionelle Körperbeschwerden, Langfassung Stand 18.07.2018, S. 76 ff (letzter Aufruf: 10.07.2025).

Hinweis
Für viele funktionelle Syndrome gibt es sowohl die Möglichkeit einer Klassifikation im F-Kapitel als auch im entsprechenden somatischen Kapitel (z. B. Reizdarmsyndrom). Dies wird sich auch in der ICD-11 nicht verändern.

Information zur ICD-11
I. R. der ICD-11-Einführung ist eine grundlegende Revision der bisherigen Diagnosekategorie "Somatoforme Störungen" vorgesehen als "Bodily distress disorder" (ICD-11 6B5), was übersetzt "Somatische Belastungsstörung" bedeutet.

In der 2018 revidierten S3-Leitlinie der AWMF wurde aus verschiedenen Gründen für die Kategorie Somatoforme Störungen der Überbegriff "Funktionelle Körperbeschwerden" gewählt:

  • Dieser Begriff beschreibt ein breites Spektrum an Beschwerden und Schweregraden von vorübergehenden Befindlichkeitsstörungen über so genannte "medically unexplained (physical) symptoms (MU(P)S)" bis hin zu kriteriengemäß ausgeprägten somatoformen Störungen, sog. funktionellen Syndromen (z. B. Reizdarmsyndrom, Kraniomandibuläre Dysfunktion) oder verschiedenen Arten unklarer Schmerzen (z. B. chronische nichtspezifische Rücken-, Gesichts-, oder myofasziale Schmerzen).
  • Er spiegelt den internationalen Sprachgebrauch wider.
  • Als positiv formulierter Begriff erlaubt dieser Behandler*innen und Patient*innen ein hilfreiches pathogenetisches Verständnis: Bei funktionellen Körperbeschwerden ist überwiegend nicht die Struktur, sondern die Funktion von Organen (einschl. Haltungs- und Bewegungsorganen) beeinträchtigt.
  • Dieser Begriff wird von Betroffenen bevorzugt.

Somatisierungsstörung (F45.0)

Charakteristische Merkmale nach ICD-10

Hinweis zur voraussichtlichen Umsetzung in der ICD-11 (laut AWMF-LL): Entsprechend "somatic symptom disorder" aus der DSM-5.

  • Multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die sich auf jedes Körperteil oder jedes System des Körpers beziehen können.
  • Die meisten Patient*innen haben eine lange und komplizierte Krankengeschichte hinter sich, sowohl in der Primärversorgung als auch in spezialisierten medizinischen Einrichtungen, wo viele ergebnislose Untersuchungen und ggf. auch ergebnislose explorative Operationen durchgeführt wurden.
  • Verlauf: Chronisch und fluktuierend, häufig mit einer langdauernden Störung des sozialen, interpersonalen und familiären Verhaltens verbunden.
  • Dauer: Mindestens zwei Jahre.
  • Eine kurzdauernde (weniger als zwei Jahre) und weniger auffallende Symptomatik wird besser unter F45.1 klassifiziert (Undifferenzierte Somatisierungsstörung).

Undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1)

Charakteristische Merkmale nach ICD-10

Hinweis: Da die diagnostischen Kriterien für F45.0 hoch angelegt wurden, wird diese Diagnose kaum vergeben, daher hat die F45.1 in der Praxis bisher eine erheblich größere Bedeutung. In der ICD-11 wird dieses Problem behoben werden.

  • Wenn die körperlichen Beschwerden zahlreich, unterschiedlich und hartnäckig sind, aber das vollständige und typische klinische Bild einer Somatisierungsstörung nicht erfüllt ist (v. a. in Bezug auf die Dauer der Symptome, die bei der undifferenzierten Somatisierungsstörung nur mind. sechs Monate betragen muss), ist diese Diagnose zu erwägen.

Hypochondrische Störung (F45.2)

Charakteristische Merkmale nach ICD-10

Hinweis zur voraussichtlichen Umsetzung in der ICD-11 (laut AWMF-LL): Die "Hypochondriasis" (6B53) wird hier voraussichtlich als Subkategorie der "obsessive-compulsive and related disorders" definiert.

  • Anhaltende Überzeugung vom Vorhandensein einer/mehrerer ernsthafter körperlicher Krankheiten, die fortschreiten.
  • Die Patient*innen leiden subjektiv unter anhaltenden körperlichen Beschwerden oder sie beschäftigen sich fortwährend mit ihren körperlichen Symptomen.
  • Normale oder allgemeine Körperwahrnehmungen und Symptome werden von den betroffenen Patient*innen oft als abnorm und belastend interpretiert.
  • Die Aufmerksamkeit wird meist auf nur ein oder zwei Organe/Organsysteme des Körpers fokussiert.
  • Depression und Angst finden sich häufig und können ggf. zusätzliche Diagnosen rechtfertigen.
  • Fehlende Akzeptanz entlastender ärztlicher Rückversicherung.
  • Dauer: Mindestens sechs Monate.

Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3)

Charakteristische Merkmale nach ICD-10

  • Mindestens zwei hartnäckige und störende Symptome einer vegetativen Stimulation in einem oder mehreren Organen oder Systemen liegen vor.
  • Die Symptome werden so geschildert, als beruhten sie auf der körperlichen Krankheit eines Systems oder eines Organs, das weitgehend oder vollständig vegetativ innerviert und kontrolliert wird (z. B. kardiovaskuläres, gastrointestinales, respiratorisches oder urogenitales System).
  • Es finden sich meist zwei Symptomgruppen, die beide nicht auf eine körperliche Krankheit des betreffenden Organs oder Systems hinweisen:
  • Die eine Gruppe umfasst Beschwerden mit objektivierbaren Symptomen der vegetativen Stimulation, wie:
    • Herzklopfen,
    • Schwitzen,
    • Erröten,

Diese Beschwerden sind Ausdruck der Furcht vor und Beeinträchtigung durch eine somatische Störung.

  • Die andere Gruppe beinhaltet subjektive Beschwerden unspezifischer und wechselnder Natur, die von den Patient*innen einem spezifischen Organ oder System zugeordnet werden, wie:
    • flüchtige Schmerzen,
    • Brennen,
    • Schwere,
    • Enge,
    • Gefühle, aufgebläht oder auseinander gezogen zu werden.
  • Diese Diagnose ist nicht an Zeitkriterien gebunden.
  • In diese Kategorie gehören z. B. Diagnosen, wie (Aufzählung nicht vollständig):
    • Herzneurose,
    • funktioneller Singultus,
    • funktionelles Colon irritable,
    • funktionelle Dyspepsie,
    • funktioneller Husten,
    • funktionelle Dysurie,
    • u. a. m.

Anhaltende Schmerzstörung (F45.4)

Charakteristische Merkmale nach ICD-10

Hinweis zur voraussichtlichen Umsetzung in der ICD-11 (laut AWMF-LL): Dort sind zwei neue Kategorien vorgesehen, die "pain disorders" (8E53) als direkter Nachfolger der anhaltenden Schmerzstörung, aber auch "chronic primary pain" (ML00.0).

  • Darunter werden zwei Unterkategorien gefasst.
  • Die diagnostischen Kriterien der beiden Unterkategorien unterscheiden sich im Wesentlichen in der Ursachenzuschreibung. Entweder stehen psychosoziale Faktoren (F45.40) oder körperliche Faktoren (F45.41) im Vordergrund.

Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.40)

  • Vorherrschende Beschwerde ist ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht hinreichend erklärt werden kann.
  • Tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auf, denen die Hauptrolle für Beginn, Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen zukommt.
  • Folge ist meist eine beträchtlich gesteigerte persönliche oder medizinische Hilfe und Unterstützung
  • Dauer: Mindestens sechs Monate durchgehend an den meisten Tagen.

Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41)

  • Seit mindestens sechs Monaten bestehende Schmerzen in einer oder mehreren anatomischen Regionen, die ihren Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung haben.
  • Psychischen Faktoren werden eine wichtige Rolle für Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen beigemessen, jedoch nicht die ursächliche Rolle für deren Beginn.
  • Der Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
  • Der Schmerz wird nicht absichtlich erzeugt oder vorgetäuscht (wie bei der vorgetäuschten Störung oder Simulation).

Sonstige somatoforme Störungen (F45.8)

Charakteristische Merkmale nach ICD-10

  • Alle anderen Störungen der Wahrnehmung, der Körperfunktion und des Krankheitsverhaltens, die nicht durch das vegetative Nervensystem vermittelt werden, die auf spezifische Teile oder Systeme des Körpers begrenzt sind und mit belastenden Ereignissen oder Problemen eng in Verbindung stehen oder zu beträchtlicher Aufmerksamkeit durch die Patient*innen führen.
  • Beispiele: Funktioneller Schiefhals, "Globus hystericus", funktioneller Pruritus, Zähneknirschen.

 

Anamnese

Hier finden Sie eine Zusammenstellung mit wichtigen Punkten für eine ausführliche Anamnese.


 

Diagnostische Maßnahmen

Diagnostische Einschätzungen

  • Im Mittelpunkt der Diagnostik steht die Erfassung der jeweils typischen Psychopathologie im Querschnitt (aktueller psychischer Befund) und im Längsschnitt (Eigen- und Fremdanamnese, biografische Anamnese, Befund- und Entlassungsberichte).
  • Gut geplante, gleichzeitige körperliche und psychosoziale Diagnostik erlaubt die Identifikation und Behandlung körperlicher und psychischer Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen, ohne die Betroffenen unnötig zu belasten oder zu fixieren.
  • Die geschilderten Beschwerden müssen
    • ernstgenommen,
    • die Indikationsstellung und Bewertung apparativer und invasiver diagnostischer Prozeduren kritisch vorgenommen werden.
  • Es muss an die Möglichkeit des Vorliegens einer somatoformen Störung gedacht werden.
  • Bei der chronischen Schmerzstörung imponiert meist eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Ausmaß der objektivierbaren Befunde und den subjektiven Beschwerden der Betroffenen.
  • Die Diagnose einer somatoformen Störung wird gestellt, wenn
    • körperliche Beschwerden oder Schmerzen wiederholt auftreten,
    • keine hinreichende organpathologische Erklärung für die körperlichen Beschwerden gefunden werden kann,
      • die differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber organischen Krankheiten bereitet hier häufiger Schwierigkeiten und erfordert Erfahrung.
    • die Lebensqualität eingeschränkt ist,
    • es zu Einschränkungen in sozialen, beruflichen und/oder anderen wichtigen Funktionsbereichen kommt,
    • eine ausgeprägte Beschäftigung und Sorgenneigung besteht,
    • deshalb vermehrt medizinische Hilfe in Anspruch genommen wird.
  • Der unkritische und wiederholte Einsatz aufwändiger oder gar invasiver Untersuchungsmethoden ist zu vermeiden, denn dieser
    • fördert die Fixierung eines rein somatischen Krankheitsverständnisses verbunden mit fehlender Akzeptanz psychotherapeutischer Behandlungsansätze,
    • setzt die Betroffenen unnötigen Risiken aus,
    • verursacht erhebliche Kosten.
  • Nach Unfallereignissen vorgebrachte psychomentale Beschwerden sind teilweise schwer diagnostisch und kausal zuzuordnen.
    • Beispiel: Schleudertrauma nach geringgradigem Auffahrunfall mit geringfügigen körperlichen Einwirkungen -> Schilderung subjektiv stark ausgeprägter Beeinträchtigungen meist im Sinne kognitiver Einbußen oder anhaltender Erschöpfung -> Differenzialdiagnostisch sind hier sowohl neurotische, Belastungs- als auch somatoforme Störungen einzubeziehen.

Klinischer Untersuchungsbefund

Hier finden Sie eine Zusammenstellung mit wichtigen Punkten für eine ausführliche Anamnese.

Apparative Diagnostik

  • Apparative Diagnostik je nach symptomspezifischer Leitlinie (z. B. S3-Leitlinie Fibromyalgiesyndrom, NVL Kreuzschmerz oder S3-Leitlinie Funktionelle Körperbeschwerden)

Testpsychologische Diagnostik

  • Testpsychologische Zusatzuntersuchungen sind bei typischer Symptomatik nur ergänzend, insbesondere zur Erfassung des Schweregrades der Symptomatik, sinnvoll und ersetzen allein keine Diagnosestellung.
  • Sie sollten bei Hinweisen auf eine nicht-authentische Beschwerdedarstellung – sofern möglich – eine Beschwerdenvalidierung beinhalten, wobei keine störungsspezifischen psychometrischen Beschwerdenvalidierungsverfahren für die somatoformen Störungen i.e.S. vorliegen.

Differenzialdiagnostik

Differenzialdiagnostisch abzugrenzen sind andere psychische Störungen wie beispielsweise:

  • Affektive (depressive) Störungen mit somatischem Syndrom,
  • Angststörungen,
  • Wahnhafte Störungen wie eine Schizophrenie mit körperbezogenem Wahnerleben,
  • Depressive Störungen mit hypochondrischem Wahn,
  • Suchterkrankungen,
  • Traumafolgestörungen,
  • Persönlichkeitsstörungen.

Komorbidität zwischen psychischer Störung und somatischen Erkrankungen

  • Die Komorbidität psychischer Erkrankungen (vor allem Angst, Depression und (komplexe) PTBS) ist mit rund 50 % ebenso hoch wie die Überlappung funktioneller Syndrome untereinander.
  • Sogenannte Funktionelle Störungen bzw. Syndrome weisen ausgeprägte Überlappungen zu somatoformen Störungen auf, wie beispielsweisedas
    • Reizdarmsyndrom (ICD-10: K58),
    • das Fibromyalgiesyndrom (ICD‑10: M79.0).

 
 

Therapieoptionen

Medikamentöse Behandlung

  • Eine Indikation zur psychopharmakologischen Therapie kann sich bei Vorliegen einer depressiven oder angstgetönten Begleitsymptomatik ergeben.
  • Patient*innen mit anhaltender Schmerzstörung können auch hinsichtlich der Reduktion der Schmerzwahrnehmung von (trizyklischen) Antidepressiva profitieren.
  • Medikamente sollten nur zur vorübergehenden Beschwerdelinderung und bei Komorbidität eingesetzt werden (Gefahr des Medikamentenabusus beispielsweise bei der Schmerzstörung).

Psychotherapeutische Behandlung

  • Aufgrund des unterschiedlichen Verlaufs und Schweregrads werden drei Behandlungsphasen unterschieden:
    • Bei Frühkontakten liegt der Schwerpunkt auf einer Basisdiagnostik mit Beratung und Beruhigung.
    • Bei persistierenden, belastenden Beschwerden werden eine erweiterte, gleichzeitige und gleichwertige Diagnostik körperlicher und psychosozialer Aspekte sowie ein therapeutischer Fokus auf Information, körperlicher Aktivierung und Selbsthilfe empfohlen.
    • Bei schwereren Verläufen umfasst eine multimodale Behandlung zusätzliche, auch (körper-)psychotherapeutische und sozialmedizinische Elemente.
  • Grundlegend wichtige therapeutische Interventionen sind:
    • Wertschätzung,
    • beruhigende psychophysiologische Informationen,
    • die gemeinsame Entwicklung eines individuellen biopsychosozialen Erklärungsmodells sowie
    • Motivation zu mehr Selbstwirksamkeit, Aktivität und einem gesünderen Lebensstil.
  • Der Schwerpunkt in der Therapie basiert auf:
    • Kommunikation,
    • biopsychosozialen Krankheitskonzepten,
    • Selbstwirksamkeit,
    • interdisziplinärem Management.
  • Regelmäßige, nicht überfordernde körperliche Aktivitäten sind zu empfehlen.
    • Länger dauernde Inaktivierung und Schonung sind i. d. R. kontraindiziert.
  • Im Einzelfall können Entspannungstechniken hilfreich sein.
  • Bleiben die Beschwerden auch nach adäquater Diagnostik und Behandlung durch den/die Hausärzt*in länger als sechs Monate bestehen, ist eine fachärztliche/psychotherapeutische Abklärung und Indikationsstellung für ambulante bzw. stationäre psychotherapeutische Interventionen erforderlich.
  • Meist besteht bei den Betroffenen zunächst keine Motivation für eine Psychotherapie.
    • Daher zielen die ersten Interventionen auf die den individuellen Erfahrungshorizont des Patienten bzw. der Patientin einbeziehende Vermittlung eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses und den Aufbau einer Psychotherapiemotivation ab.
    • Kognitiv-verhaltenstherapeutische Psychotherapieverfahren haben sich v. a. bei Patient*innen mit anhaltenden Schmerzstörungen als hilfreich erwiesen.
  • Bei schweren Verläufen mit starker Funktionsbeeinträchtigung ist eine multimodale Behandlung unter Einbeziehung weiterer therapeutischer Komponenten indiziert.
  • In psychosomatische, psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung gelangen meist nur Betroffene mit
    • einer psychischen Komorbidität (z. B. Depression, (komplexe) PTBS, schädlicher Gebrauch von Medikamenten),
    • einer erheblichen Chronifizierung und
    • einem massiven Leidensdruck.
    • Die Begründung liegt in dem meist ausschließlich somatischen Krankheitsverständnis der Betroffenen.
  • Meist wirksamer als passive und organbezogene Maßnahmen sind aus Behandler*innensicht folgende Aspekte:
    • professionell-empathische Haltung,
    • reflektierte Kommunikation und Information,
    • sorgfältiger, zurückhaltender Umgang mit Diagnostik,
    • gute interdisziplinäre Kooperation,
    • auf aktive und auf Selbstwirksamkeit zielende Interventionen.

 
 

Krankheitsverlauf und Prognose

Krankheitsverlauf

  • Der Verlauf somatoformer Störungen ist
    • häufig chronisch
    • variabel, sowohl im Hinblick auf Art und Lokalisation der Beschwerden als auch im Hinblick auf deren Ausmaß, Schweregrad und Auswirkungen auf Lebensqualität und Leistungsfähigkeit
    • nicht selten iatrogen befördert durch wiederholte und ggf. unnötigerweise durchgeführte organmedizinisch ausgerichtete Diagnostik und Behandlungsversuche
    • grundsätzlich stark von ärztlichen Verhaltensweisen beeinflusst
  • Inter- und intraindividuell unterschiedliche Verläufe von der spontanen Remission bis hin zur schweren Chronifizierung mit völliger sozialer Isolation sind möglich
  • Ein chronifizierter Verlauf wird gefördert durch:
    • wiederholte und unnötige organmedizinische Ausschlussdiagnostik
    • Dokumentation organmedizinisch anmutender "Verlegenheitsdiagnosen"
    • Medikamentenverordnung ohne klare Indikation
  • Eine negative Verlaufsentwicklung kann erzeugt werden durch:
    • zahlreiche medikamentöse Verschreibungen
    • Verschreibungen durch mehrere gleichzeitig konsultierte Ärzt*innen
    • die Entwicklung eines schädlichen Gebrauchs von Medikamenten (z. B. Abführmittel, Tranquilizer)
  • Da der/die Hausärzt*in für die meisten Menschen mit somatoformen Störungen der/die erste Ansprechpartner*in im Gesundheitssystem ist, hängt die Weichenstellung für den weiteren Krankheitsverlauf von einer kontinuierlichen stützenden hausärztlichen Beratung und Begleitung ab.

Versorgung

  • Somatoforme Störungen sind in allgemeinärztlichen Praxen und Allgemeinkrankenhäusern häufig
    • etwa 20 bis 50 % der Patient*innen in Hausarztpraxen,
    • zwischen 25 und 66 % in spezielleren klinischen Kontexten, z. B. Rheuma- oder Schmerz- oder gynäkologischer Ambulanz, betroffen.
  • In der psychosomatischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung sind somatoforme Körperbeschwerden häufig anzutreffen (bis > 70 %) als Hauptdiagnosen zugunsten von Depression, Angst-, Ess- oder Persönlichkeitsstörungen.
  • Der Umgang mit dieser Patientenklientel wird von Behandler*innenseite oft als schwierig erlebt.

Prognose

  • Die Prognose ist in Abhängigkeit vom folgenden Faktoren zu beurteilen:
    • Chronifizierungsgrad des Krankheitsverhaltens,
    • Vorhandensein und der Ausprägung – häufig auftretender – komorbider psychischer Störungen sowie
    • psychosozialen Begleitfaktoren.
  • Beschwerdefreiheit kann häufig auch durch psychotherapeutische Interventionen bei entsprechend motivierten Patient*innen nicht erreicht werden, wohl aber eine Verbesserung der Lebensqualität und Verhinderung einer Verschlimmerung mit zusätzlichen psychosozialen Begleitfolgen.
  • Die Lebenserwartung erscheint unbeeinträchtigt, allerdings besteht ein erhöhtes Suizidrisiko.
  • Suizidalität:
    • Suizidgedanken, latente und manifeste Suizidalität sind unterschätzte Risiken bei Patient*innen mit funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden.
    • Passive Todeswünsche kommen bei etwa der Hälfte (56 %), konkrete Suizidgedanken bei bis zu einem Drittel (24 bis 34 %) der Patient*innen mit funktionellen Störungen vor; 13 bis 18 % haben in ihrem bisherigen Leben schon einen Suizidversuch unternommen.
    • Am gefährdetsten sind Patient*innen mit kriteriengemäß ausgeprägten funktionellen und somatoformen Störungen und mit psychischen, v. a. depressiven Begleiterkrankungen.