Sozialmedizinische Beurteilung
Die Diagnose einer depressiven Störung wird leitliniengerecht und gemäß den diagnosespezifischen gültigen Kriterien gestellt, die Klassifizierung erfolgt mittels ICD-10-Diagnoseschlüssel.
Für die sozialmedizinische Beurteilung depressiver Störungen ist die Anwendung der ICF bzw. der Mini-ICF-APP notwendig, um die Funktionsstörungen und die daraus resultierenden Störungen auf der Ebene der Aktivitäten sowie Einschränkungen der (beruflichen) Teilhabe zu klären.
Bereits vorliegende Befunde, die Angaben der begutachteten Person, die erhobenen Befunde inklusive einer detaillierten Erfassung des Tagesablaufes und das in der Untersuchungssituation beobachtete Verhalten sind differenziert zu betrachten und in einer umfassenden Analyse zusammenzufassen. Die Sachaufklärung soll dabei so ausgerichtet sein, dass eine Aussage über das quantitative und qualitative Leistungsvermögen getroffen werden kann.
Folgende Aspekte sind bei der sozialmedizinischen Beurteilung im Hinblick auf die Alltagsbewältigung, insbesondere in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit, zu berücksichtigen:
- der Ausprägungsgrad der jeweiligen Symptome,
- der bisherige Verlauf (in Phasen, Abfrage von erfolgten Behandlungen) und
- inwieweit es sich bereits um eine Chronifizierung handelt.
Sozialmedizinisch relevant sind bei der depressiven Störung vor allem:
- rezidivierende depressive Episoden
- depressive Störungen, die länger (mehr als sechs Monate) andauern
- Double Depression
- Kombination mit weiteren psychischen oder somatischen Komorbiditäten
- wiederholte Zeiten von Arbeitsunfähigkeit oder langdauernde Arbeitsunfähigkeit
- erschwerte Krankheitsbewältigung
- depressive Störungen im Kontext schwer oder gar nicht veränderbarer Lebenssituationen
- Dysthymie, wenn die persönliche Kompensationsfähigkeit des Betroffenen im Kontext des Erwerbslebens nicht ausreicht und mehr als einzelne Einschränkungen im Bereich des Leistungsvermögens vorliegen
Grundlagen der sozialmedizinischen Beurteilung
Hierzu zählen:
- Diagnosen
- Beschreibung der Funktionsstörungen und daraus resultierende Beeinträchtigungen der Aktivitäten
- Verbindung von Querschnitts- und Längsschnittverlauf
- Ausschöpfung therapeutischer Optionen
- Krankheitsbewältigung
- Beschwerdenvalidierung
Nähere Informationen zu den o.g. Punkten erhalten Sie auf der Seite "Leitfaden für die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens".
Medizinische Rehabilitation
Die Einschätzung von Rehabilitationsbedarf, Rehabilitationsfähigkeit, Rehabilitationsprognose erfolgt unter Berücksichtigung der unter Grundlagen der sozialmedizinischen Beurteilung genannten Punkte. Für die Bewilligung einer psychosomatischen Rehabilitation ist die abgeschlossene fachspezifische Diagnostik sowie eine vorausgegangene störungsspezifische Behandlung Voraussetzung. Rehabilitationsbedarf liegt dann vor, wenn die fachärztliche / psychotherapeutische leitliniengerechte störungsspezifische Behandlung nicht ausreichend und eine multimodale interdisziplinäre gruppenorientierte Behandlung einer medizinischen Rehabilitation (§ 10 SGB VI) erforderlich ist.
Rehabilitationsbedarf
Wenn trotz adäquater ambulanter und ggf. auch stationärer kurativer Behandlung einer depressiven Störung Beeinträchtigungen der Teilhabe im Sinne einer erheblichen Gefährdung oder bereits eingetretenen Minderung der Erwerbsfähigkeit bestehen, sollte die Durchführung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation erwogen werden, um
- das Leistungsvermögen positiv zu beeinflussen
- eine Ausweitung und Chronifizierung der psychosozialen Beeinträchtigungen zu vermeiden
- die Krankheitsbewältigung zu unterstützen.
Rehabilitationsbedarf besteht in Abhängigkeit von:
- Dauer und Ausprägung der depressiven Störung
- ggf. vorliegenden komorbiden psychischen Störungen
- ggf. vorliegenden somatischen Erkrankungen
- der psychosozialen Belastung.
Rehabilitationsfähigkeit
Die Rehabilitationsfähigkeit ist bei depressiven Störungen in der Regel gegeben, wenn folgende Aspekte erfüllt sind:
- hinreichende psycho-mentale Belastungsfähigkeit
- keine akute psychotische Symptomatik
- keine gravierende Suchtmittelproblematik
- keine stärkeren kognitiven Störungen
- keine akute Suizidalität
- keine Fremdgefährdung
- hinreichende Gruppenfähigkeit
- keine Symptomausprägung der Störung, die die Rehabilitationsleistung stark beeinträchtigt
- ausreichende Motivation zur Teilnahme an der Rehabilitation
An einer Depression erkrankte Menschen mit einem hohen Bedarf an Einzelpsychotherapie, aufgehobener Gruppenfähigkeit, akuter Suizidalität können in einer Rehabilitationseinrichtung nicht hinreichend behandelt werden. In diesem Fall ist die Notwendigkeit einer stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Krankenhausbehandlung zu prüfen.
Rehabilitationsprognose
Die Einschätzung der Rehabilitationsprognose zielt darauf ab, ob durch die medizinische Rehabilitation
- bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit abgewendet werden kann oder
- bei bereits eingetretener Minderung der Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wesentlich gebessert oder wiederhergestellt
- oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann.
Eine positive Rehabilitationsprognose ist gegeben, wenn
- die Einschätzung besteht, dass die Störungen der Aktivitäten durch die medizinische Rehabilitation veränderbar sind.
- trotz der Störungen der Aktivitäten das Rehabilitationsziel (einer positiven Beeinflussung der Erwerbsfähigkeit) der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht werden kann.
- Kompensationsmöglichkeiten zum Ausgleich der Störung der Teilhabe hinreichend umsetzbar sind.
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind Teilhabeleistungen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, beruflichen Anpassung, Berufsvorbereitung, Fort- und Weiterbildung, Ausbildung und Qualifizierung sowie finanzielle Hilfen.
Welche Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben in Betracht kommt, ist abhängig vom individuellen Unterstützungsbedarf unter Berücksichtigung der Belastbarkeit und der individuellen Einschätzung der begutachteten Person. Um diese einschätzen zu können, bedarf es der Kenntnis der Situation am Arbeitsplatz und der individuellen Anforderungen am Arbeitsplatz.
Werden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erwogen, sollte auf die beruflichen Vorerfahrungen und die persönlichen Ressourcen der Person eingegangen werden.
Dabei ist abzuwägen, ob Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes vorrangig sinnvoller sind als aufwändige Qualifizierungsmaßnahmen. Eine Leistung zur Berufsförderung ist mit einer recht hohen Belastbarkeit verbunden und setzt eine gute psychische Stabilität voraus.
Bei niedriger Episodenfrequenz, günstigem Krankheitsverlauf, guter Krankheitsbewältigung sind meistens keine Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlich. Sollte es bei depressiven Störungen als auch bei der Dysthymie im beruflichen Zusammenhang zu Überforderungen kommen, kämen ggf. LTA-Maßnahmen in Betracht. Vor der möglichen Durchführung von weiterführenden LTA-Maßnahmen ist zu klären, ob diese Maßnahmen realistisch zu einer Verbesserung der Erwerbsfähigkeit führen.
Leistungsvermögen
Auswirkung der Beeinträchtigungen der Aktivitäten auf das Leistungsvermögen
Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit muss in der Zusammenschau aller Befunde und Informationen unter Berücksichtigung von ICF bzw. Mini-ICF erfolgen. Dies umfasst die konkrete Erfassung der Funktionsstörungen und deren Auswirkungen auf die Aktivitäten sowie die damit verbundenen Einschränkungen in der Teilhabe am Erwerbsleben.
Menschen mit einer depressiven Störung zeigen im unterschiedlichen Ausmaß und mit unterschiedlicher Dauer Einschränkungen in der Stimmung und im Antrieb sowie Beeinträchtigungen im Bereich der kommunikativen und kognitiven Fähigkeiten.
Bei einem episodischen Verlauf ist jenseits der akuten Phase die Leistungsfähigkeit in der Regel nicht gravierend beeinträchtigt. Die Prognose ist unter folgenden Konstellationen als insgesamt positiv einzuschätzen:
- stabile Primärpersönlichkeit
- wenige depressive Episoden
- geringerer Ausprägungsgrad der jeweiligen Episoden.
Bei wiederholt auftretenden Episoden als auch bei einer möglichen chronischen Entwicklung kann sowohl das qualitative als auch das quantitative Leistungsvermögen beeinträchtigt sein. Hier spielen unter anderem weitere folgende Aspekte eine Rolle:
- psychische / somatische Komorbiditäten
- Krankheitsbewältigung
- soziale Unterstützung.
Auswirkung der Beeinträchtigung der Aktivitäten auf das Leistungsvermögen
- Zuletzt ausgeübte Tätigkeit
- Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
- Beruf
Desweiteren zählen dazu:
- Qualitatives Leistungsvermögen
- Quantitatives Leistungsvermögen
- Voraussichtliche Dauer der Leistungseinschränkung.
Nähere Informationen zu den o. g. Punkten erhalten Sie auf der Seite "Leitfaden für die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens".