Deutsche Rentenversicherung

Alkoholbedingte Störung

Sozialmedizinische Beurteilung
Stand: 07.07.2025

  

Sozialmedizinische Beurteilung

Die Diagnose einer alkoholbedingten Störung wird leitliniengerecht und gemäß den diagnosespezifischen gültigen Kriterien gestellt, die Klassifizierung erfolgt mittels ICD-10-Diagnoseschlüssel.

Für die sozialmedizinische Beurteilung einer alkoholbedingten Störung ist die Anwendung der ICF bzw. Mini-ICF-APP notwendig, um die Funktionsstörungen und die daraus resultierenden Störungen auf der Ebene der Aktivitäten sowie Einschränkungen der (beruflichen) Teilhabe zu klären.

Bereits vorliegende Befunde, die Angaben der begutachteten Person, die erhobenen Befunde inklusive einer detaillierten Erfassung des Tagesablaufes und das in der Untersuchungssituation beobachtete Verhalten sind differenziert zu betrachten und in einer umfassenden Analyse zusammenzufassen. Die Sachaufklärung soll dabei so ausgerichtet sein, dass eine Aussage über das quantitative und qualitative Leistungsvermögen getroffen werden kann.

 

Folgende Aspekte sind bei der sozialmedizinischen Beurteilung im Hinblick auf die Alltagsbewältigung, insbesondere in Bezug auf die Erwerbsfähigkeit, zu berücksichtigen:

  • die Symptomatik
  • der Ausprägungsgrad der Symptomatik,
  • die Dauer der Symptomatik (Abfrage von erfolgten Behandlungen) und
  • inwieweit es sich bereits um eine Chronifizierung handelt.

 

Sozialmedizinisch relevant sind bei einer alkoholbedingten Störung vor allem:

  • zunehmende Symptomatik
  • chronifizierte Verlaufsform
  • Kombination mit weiteren psychischen oder somatischen Komorbiditäten oder Folgestörungen
  • wiederholte Zeiten von Arbeitsunfähigkeit oder langdauernde Arbeitsunfähigkeit
  • erschwerte Krankheitsbewältigung.


 

Grundlagen der sozialmedizinischen Beurteilung

Hierzu zählen:

  • Diagnosen
  • Beschreibung der Funktionsstörungen und daraus resultierende Beeinträchtigungen der Aktivitäten
  • Verbindung von Querschnitts- und Längsschnittverlauf
  • Ausschöpfung therapeutischer Optionen
  • Krankheitsbewältigung
  • Beschwerdenvalidierung

Nähere Informationen zu den o.g. Punkten erhalten Sie auf der Seite "Leitfaden für die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens".


 

Medizinische Rehabilitation

Die Einschätzung von Rehabilitationsbedarf, Rehabilitationsfähigkeit, Rehabilitationsprognose erfolgt unter Berücksichtigung der unter Grundlagen der sozialmedizinischen Beurteilung genannten Punkte. Für die Bewilligung einer psychosomatischen Rehabilitation ist die abgeschlossene fachspezifische Diagnostik sowie eine vorausgegangene störungsspezifische Behandlung Voraussetzung. Rehabilitationsbedarf liegt dann vor, wenn die fachärztliche / psychotherapeutische leitliniengerechte störungsspezifische Behandlung nicht ausreichend und eine multimodale interdisziplinäre gruppenorientierte Behandlung einer medizinischen Rehabilitation (§ 10 SGB VI) erforderlich ist.

Rehabilitationsbedarf

Wenn trotz adäquater ambulanter und gegebenenfalls auch stationärer kurativer Behandlung einer alkoholbedingten Störung Beeinträchtigungen der Teilhabe im Sinne einer erheblichen Gefährdung oder bereits eingetretenen Minderung der Erwerbsfähigkeit bestehen, sollte die Durchführung einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation erwogen werden, um

  • das Leistungsvermögen positiv zu beeinflussen
  • Folgestörungen sowie ein Fortschreiten von Folgestörungen zu verhindern
  • eine Ausweitung und Chronifizierung der psychosozialen Beeinträchtigungen zu vermeiden
  • die Krankheitsbewältigung zu unterstützen.

 

Hinweisend auf einen Rehabilitationsbedarf bei alkoholbedingten Störungen sind unter anderem:

  • zunehmender Konsum von Alkohol mit Kontrollverlust mit oder ohne Folgeschäden oder Komorbiditäten
  • Chronifizierung der Symptomatik
  • alkoholbedingte Folgeerkrankungen
  • Kombination mit weiteren psychischen oder somatischen Komorbiditäten
  • wiederholte Zeiten von Arbeitsunfähigkeit oder langdauernde Arbeitsunfähigkeit
  • erschwerte Krankheitsbewältigung.

 

Rehabilitationsbedarf besteht in Abhängigkeit von:

  • Dauer und Ausprägung der Alkoholabhängigkeit
  • ggf. vorliegenden alkoholinduzierten psychischen Störungen
  • ggf. vorliegenden komorbiden psychischen Störungen
  • ggf. vorliegenden alkoholinduzierten somatischen Erkrankungen
  • ggf. vorliegenden somatischen Erkrankungen
  • der psychosozialen Belastung.

 

Je nach Ausprägungsgrad der Symptomatik kann eine medizinische Rehabilitation bei alkoholbedingter Störung unterschiedlichen Settings erfolgen:

  • stationäre Rehabilitation
  • ganztägig ambulante Rehabilitation
  • ambulante Rehabilitation
  • Kombinationsbehandlung (z.B. Phase 1: stationär, Phase 2: ganztägig ambulant).

 

Indikation für eine stationäre Rehabilitation:

  • gravierende Folge- und Begleiterkrankungen
  • geringe Abstinenzerfahrung bzw. vergebliche Abstinenzversuche
  • eine noch mangelhaft ausgeprägte Krankheitseinsicht und wenig Selbstkontrolle
  • ein eher nicht abstinenzfördernder sozialer Rahmen.

 

Indikation für eine ganztägig ambulante Rehabilitation:

  • Therapieintensität wie bei stationärer Rehabilitation
  • ausreichende psychische Stabilität mit hinreichender Selbstkontrolle zur Abstinenzfähigkeit an den Abenden und am Wochenende
  • stabilisierender sozialer Rahmen am Wohnort (Familie, Partnerschaft, Beruf, stabiles Wohnumfeld).

 

Indikation für eine ambulante Rehabilitation:

  • guter Gesundheitszustand
  • Abstinenzfähigkeit auch zwischen den Behandlungsterminen
  • gute Motivationslage und Selbstkontrolle
  • stabilisierender sozialer Rahmen am Wohnort (Familie, Partnerschaft, Beruf, stabiles Wohnumfeld).

 

Die Diagnose schädlicher Gebrauch von Alkohol (F10.1) beinhaltet definitionsgemäß eine körperliche oder psychische Gesundheitsschädigung durch den Alkoholkonsum. Der schädliche Gebrauch einer Suchtmittelsubstanz begründet allerdings keine medizinische Rehabilitation in einer Einrichtung für Abhängigkeitserkrankte. Alkoholbedingte Folgekrankheiten oder andere psychische oder somatische Komorbiditäten können aber eine medizinische Rehabilitation in einer psychosomatischen oder somatischen Fachabteilung begründen. In solchen Fällen ist die Durchführung der medizinischen Rehabilitation in einer Rehabilitationseinrichtung zu empfehlen, die über die Expertise zur Behandlung eines schädlichen Gebrauchs von Suchtmitteln verfügen.

Der Rückfall bei alkoholbedingten Störungen ist ein Symptom der Erkrankung und gibt Anlass für weiterführende Behandlungsmaßnahmen für die Wiedererlangung der Abstinenz. Hier kommt auch eine erneute medizinische Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen, gegebenenfalls in verkürzter Form, in Betracht.

Rehabilitationsfähigkeit

Die Rehabilitationsfähigkeit ist bei einer alkoholbedingter Störung in der Regel gegeben, wenn folgende Aspekte erfüllt sind:

  • Durchführung einer Entgiftung und Fehlen von Entzugssymptomen
  • hinreichende psycho-mentale Belastungsfähigkeit
  • bei instabiler Fähigkeit zur Abstinenz außerhalb eines „beschützen Settings“ kann im „Nahtlosverfahren“ eine direkte Verlegung des Betroffenen aus dem Krankenhaus in die Rehabilitationseinrichtung erfolgen
  • keine Symptomausprägung der Störung, die die Rehabilitationsleistung stark beeinträchtigt
  • keine akute psychotische Symptomatik
  • keine stärkeren kognitiven Störungen
  • keine akute Suizidalität
  • keine Fremdgefährdung
  • hinreichende Gruppenfähigkeit
  • ausreichende Motivation zur Teilnahme an der Rehabilitation

 

An einer alkoholbedingter Störung erkrankte Menschen mit einem hohen Bedarf an Einzelpsychotherapie, aufgehobener Gruppenfähigkeit, akuter Suizidalität können in einer Rehabilitationseinrichtung nicht hinreichend behandelt werden. In diesem Fall ist die Notwendigkeit einer stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Krankenhausbehandlung zu prüfen.

Rehabilitationsprognose

Die Einschätzung der Rehabilitationsprognose zielt darauf ab, ob durch die medizinische Rehabilitation

  • bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit abgewendet werden kann oder
  • bei bereits eingetretener Minderung der Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wesentlich gebessert oder wiederhergestellt
  • oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann.

  

Eine positive Rehabilitationsprognose ist gegeben, wenn

  • die Einschätzung besteht, dass die Störungen der Aktivitäten durch die rehabilitative Maßnahme veränderbar sind.
  • trotz der Störungen der Aktivitäten das Rehabilitationsziel (einer positiven Beeinflussung der Erwerbsfähigkeit) der gesetzlichen Rentenversicherung erreicht werden kann.
  • Kompensationsmöglichkeiten zum Ausgleich der Störung der Teilhabe hinreichend umsetzbar sind.

 
 

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind Teilhabeleistungen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, beruflichen Anpassung, Berufsvorbereitung, Fort- und Weiterbildung, Ausbildung und Qualifizierung sowie finanzielle Hilfen.

Welche Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben in Betracht kommt, ist abhängig vom individuellen Unterstützungsbedarf unter Berücksichtigung der Belastbarkeit und der individuellen Einschätzung der begutachteten Person. Um diese einschätzen zu können, bedarf es der Kenntnis der Situation am Arbeitsplatz und der individuellen Anforderungen am Arbeitsplatz.

Werden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erwogen, sollte auf die beruflichen Vorerfahrungen und die persönlichen Ressourcen der Person eingegangen werden.

Dabei ist abzuwägen, ob Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes vorrangig sinnvoller sind als aufwändige Qualifizierungsmaßnahmen. Eine Leistung zur Berufsförderung ist mit einer recht hohen Belastbarkeit verbunden und setzt eine gute psychische Stabilität voraus.

Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen haben häufig den Wunsch, im Rahmen einer Berufsförderung einen sozialen Beruf (zum Beispiel Pflegeberuf oder Suchtkrankenhilfe) zu erlernen. Dem liegt häufig das Bestreben zugrunde, in diesem Bereich selbst Kompetenzen zu erwerben, indem vorher subjektiv Hilflosigkeit als auch Versagen erlebt wurde. In diesen Fällen gilt es einzuschätzen, inwieweit sich die betroffene Person in professioneller Weise auch abgrenzen kann, um nicht durch eine Überforderung einer erhöhten Rückfallgefahr ausgesetzt zu sein.


 

Leistungsvermögen

Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit muss in der Zusammenschau aller Befunde und Informationen unter Berücksichtigung von ICF bzw. Mini-ICF erfolgen. Dies umfasst die konkrete Erfassung der Funktionsstörungen und deren Auswirkungen auf die Aktivitäten sowie die damit verbundenen Einschränkungen in der Teilhabe am Erwerbsleben. Weitere Prüfungen, wie zum Beispiel die Einschätzung des Risikos für die Allgemeinheit, erfolgt durch andere Institutionen (unter anderem Arbeitgeber Straßenverkehrsamt, TÜV etc.).

 

Die alkoholbedingter Störung kann zu quantitativen und / oder qualitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit führen. Zu berücksichtigen sind zur Klärung unter anderem folgende Aspekte:

  • Schwere, Dauer und Verlauf (Chronifizierungsgrad) der Symptomatik
  • Komorbiditäten
  • prämorbide Persönlichkeit
  • (bisher erfolgte adäquate) Behandlungsmaßnahmen und weitere Behandlungsoptionen.

 

Eine erhebliche Bedeutung kommt der Unterscheidung von Folgeerkrankungen des Alkoholkonsums und weiteren Komorbiditäten zu. Im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung von Menschen mit alkoholbedingten Störungen sind folgende Aspekte differenziert zu betrachten:

  • die Alkoholabhängigkeit selbst
  • die alkoholbedingten Folgeerkrankungen
  • somatische und / oder psychische Komorbiditäten
  • die Kontextfaktoren (berufstypische und arbeitsplatzspezifische Anforderungen).

 

Das Leistungsvermögens kann unter anderem durch folgende (alkoholinduzierte) Erkrankungen beeinträchtigt werden:

  • Leberzirrhose
  • chronische Pankreatitis
  • Kardiomyopathie
  • Blutbildungsstörung
  • Stoffwechselstörung
  • Krebserkrankungen
  • Polyneuropathie
  • toxische Encephalopathie
  • kognitive Störungen
  • Persönlichkeitsveränderungen.

 

In folgenden Fallkonstellationen kann das Leistungsvermögen stark beeinträchtigt sein:

  • fortgeschrittene kognitive Einschränkungen mit unzureichender Krankheitseinsicht
  • Persönlichkeitsstörungen mit stark eingeschränkter Frustrationstoleranz.

 

Folgeerkrankungen bei Alkoholkonsum sind häufig und vielgestaltig. Bei längerfristiger Abstinenz sind diese gegebenenfalls in ihrem Ausmaß rückläufig und verbessern insgesamt die Prognose. Die gesundheitliche Besserung führt bei den Betroffenen zu einer Stärkung der Abstinenzmotivation.

Folgeerkrankungen sind zuständig fachärztlich zu beurteilen, da diese meist die Erwerbsfähigkeit erheblich beeinträchtigen können.

Die Alkoholabhängigkeit ohne leistungsrelevante Folgeschädigungen oder Komorbiditäten begründet in der Regel keine dauerhafte Minderung der Erwerbsfähigkeit.

 

Die Prüfung der Arbeitsbedingungen dient unter anderem der Klärung, ob und wie diese gegebenenfalls (zum Beispiel durch Anpassungen des Arbeitsprozesses) modifiziert werden können, um für die Betroffenen die Teilhabe am Arbeitsleben zu erleichtern und das Risiko für einen Rückfall zu reduzieren.

Im Rahmen der sozialmedizinischen Begutachtung ist zu klären, ob eine Rückfallgefährdung durch bestimmte Bedingungen am Arbeitsplatz für die Betroffenen vorliegt. Eine Rückfallgefährdung kann vorliegen, wenn zum Beispiel eine „besondere Griffnähe“ zum Alkohol gegeben ist, wie beispielsweise bei einem Koch. In diesen Fällen sollte geklärt werden, ob und wie gegebenenfalls die Arbeitsbedingungen verändert werden können, um das Rückfallrisiko zu minimieren.

In einigen Berufen (zum Beispiel Berufskraftfahrer, Lokomotivführer, Piloten, sicherheitssensible Berufe) besteht durch einen krankheitsbedingten Rückfall auch ein besonderes Sicherheitsrisiko sowohl für den Betroffenen selbst als auch für die Allgemeinheit.

Unter Umständen muss folgendes geprüft werden:

  • mögliche Veränderung der Situation am Arbeitsplatz selbst
  • Verweisbarkeit auf eine andere Tätigkeit
  • Einleitung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

  

Mangelnde Fähigkeit zur dauerhaften Abstinenz

Rückfälligkeit ist ein häufiges Symptom der alkoholbedingten Störung und kann in jedem Stadium der Erkrankung auftreten. Bei wiederholten Rückfällen wird davon ausgegangen, dass sich die / der Betroffene durch wiederholte Behandlungen in die Lage versetzt, abstinent zu leben, einhergehend mit einer entsprechenden positiven Auswirkung auf die Erwerbsfähigkeit

Wiederholte Rückfälle bei Alkoholabhängigkeit ohne gravierende Funktionsstörungen durch Folgeerkrankungen oder Komorbiditäten stellen in der Regel keine Begründung für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit dar, sondern sind vielmehr Grund für erneute rehabilitative Behandlungen.

 

Auswirkung der Beeinträchtigung der Aktivitäten auf das Leistungsvermögen

  • Zuletzt ausgeübte Tätigkeit
  • Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
  • Beruf

Desweiteren zählen dazu:

  • Qualitatives Leistungsvermögen
  • Quantitatives Leistungsvermögen
  • Voraussichtliche Dauer der Leistungseinschränkung

Nähere Informationen zu den o. g. Punkten erhalten Sie auf der Seite "Leitfaden für die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens".