Sozialmedizinische Beurteilung
- Die sozialmedizinische Beurteilung erfolgt auf Grundlage der vorhandenen Befunde. Die Sachaufklärung dient entsprechend der ICF vornehmlich der Klärung der Funktionsstörungen und der damit verbundenen Störungen auf der Ebene der Aktivitäten sowie den daraus resultierenden Einschränkungen in Bezug auf die Teilhabe. Sie umfasst ebenso die Kontextfaktoren.
- Die Sachaufklärung soll so ausgerichtet sein, dass eine Aussage über das quantitative und qualitative Leistungsvermögen getroffen werden kann.
Grundlagen der sozialmedizinischen Beurteilung
Hierzu zählen:
- Diagnosen
- Beschreibung der Funktionsstörungen und daraus resultierende Beeinträchtigungen der Aktivitäten
- Verbindung von Querschnitts- und Längsschnittverlauf
- Ausschöpfung therapeutischer Optionen
- Krankheitsbewältigung
- Beschwerdenvalidierung
- Verbindung von Funktionsstörung, Beeinträchtigung von Aktivitäten mit dem Arbeits- und Sozialleben
- Kriterien zur sozialmedizinischen Prognosebeurteilung
- Berufliche Kontextfaktoren
Nähere Informationen zu den o.g. Punkten erhalten Sie auf der Seite "Leitfaden für die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens".
Krankheitsbewältigung
Bestehen Probleme bei der Krankheitsbewältigung, die Psychotherapie innerhalb einer neurologischen Rehabilitation erfordern?
Beschwerdenvalidierung
Ziel der Beschwerdenvalidierung: Klärung, ob die vom Probanden berichteten Beschwerden und Funktionsstörungen mit dem gutachterlichen Untersuchungsbefund erklärt werden können. Der gutachterlich erhobene Befund muss als Querschnittsbefund kritisch eingeordnet werden. In einer ON-Phase können Beeinträchtigungen des Gangbildes, der übrigen Motorik und auch zusätzliche Symptome (z.B. ängstlich-depressive Stimmungsschwankungen) weitgehend kompensiert sein.
Bei der Parkinson-Krankheit ist es deshalb notwendig, die Beschwerden gesondert für ON- und OFF-Phasen zu erheben. Falls möglich, ist eine Fremdanamnese hilfreich, um Beeinträchtigungen der sozialen und beruflichen Teilhabe vollständig zu erfassen.
Kriterien zur sozialmedizinischen Prognosebeurteilung
U.a. wegen der Progredienz der neurodegenerativen Erkrankung kann eine medizinische Rehabilitation vorzeitig (also vor Ablauf der gesetzlichen 4-Jahres Frist) aus medizinischer Sicht erforderlich werden. Falls bereits medizinische Rehabilitationen absolviert wurden: Führten diese zu längerfristigen Stabilisierungen? Diese sind als prognostisch günstig für weitere medizinische oder berufliche Rehabilitationsmaßnahmen zu werten.
Weiterhin sollte bei der Prognoseeinschätzung berücksichtigt werden, ob ggf. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) bei der Wiedereingliederung ins Arbeitsleben oder dem Erhalt eines bestehenden Arbeitsplatzes unterstützen können.
Sollte eine negative Erwerbsprognose und eine negative Rehabilitationsprognose in Bezug darauf gutachterlicherseits gesehen werden, ist im Sinne des weiteren Reha-Bedarfs (der sich aus SGB IX und dem § 40 SGB V ergibt) zu prüfen, ob eine medizinische Rehabilitation zur Abwendung von Pflegebedürftigkeit notwendig ist.
Die sozialmedizinische Prognose ergibt sich aus allen bislang gelisteten Aspekten, z.B:
- Extrapolation des bisherigen Verlaufs der Erkrankung (Schweregrad, Progredienz, Dauer, Stadium nach Hoehn & Yahr)
- Art und Schweregrad einer kognitiven Beeinträchtigung (z.B. Konzentrationsstörung, Fatigue-Symptomatik, kognitive Defizite)
- Bisherige Therapien/Rehabilitationsmaßnahmen:
- Vorbehandlungen
- Wirksamkeit der medikamentösen Therapiemaßnahmen
- Verbesserung durch nicht-medikamentöse Therapien wie Physio- und Ergotherapie
- Ausschöpfung der Therapieoptionen
- Beurteilung, ob der Einsatz von weiteren therapeutischen/rehabilitativen Maßnahmen die Leistungsfähigkeit günstig beeinflusst
- Krankheitsverarbeitung und Motivation für medizinische Rehabilitation
- Arbeitsunfähigkeitszeiten
- Verfügbarkeit von personalen und umweltbezogenen Ressourcen
- Sozialer Hintergrund
- Rentenantragsstellung
Berufliche Kontextfaktoren
- Besteht ein Arbeitsverhältnis?
- Sind die Anforderungen des Arbeitsplatzes passend zu den bestehenden krankheitsbedingten Defiziten? In anderen Worten ist die ausgeübte Tätigkeit "leidensgerecht"?
- Gibt es spezifische Arbeitsbedingungen, die sich entweder fördernd (z.B. flexible Arbeitszeitverteilung / Home-Office) oder negativ auf die chronische Erkrankung auswirken?
- Ist durch krankheitsbedingte neuro-psychiatrische Beeinträchtigungen die Wegefähigkeit gefährdet (z.B. Sekundenschlaf, motorische Fluktuationen, Panikattacken)?
Medizinische Rehabilitation
Wenn die Erwerbsfähigkeit gefährdet oder bereits gemindert ist, ist von gutachterlicher / beratungsärztlicher Seite Stellung zu der Frage zu nehmen, ob Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben geeignet sind, die Gefährdung der Erwerbsfähigkeit abzuwenden.
Zunächst sollen die krankheitsbedingten Funktionsdefizite benannt werden. Bei der Parkinson-Krankheit kommen u.a. folgende Funktionsdefizite vor (vgl. Muhl C, Timmann-Braun D in: Neurowissenschaftliche Begutachtung, Widder B/ Gaidzik P (Hrsg.)):
- Motorische Symptome: Beeinträchtigungen beim Gebrauch von Werkzeugen. Beeinträchtigungen der Schreibschrift (Mikrographie). Kommunikationsstörungen durch Hypophonie oder stotternde Sprache. Verschlechterung eines Ruhetremors bei Tätigkeiten unter Zeitdruck oder Publikumskontakt. Störungen der Halte- und Stellreflexe können Arbeiten auf Leitern gefährden.
- Vegetative Regulationsstörungen können die soziale/ private Teilhabe beeinträchtigen. Z.B. durch Stürze oder sexuelle Funktionsstörungen.
- Sensorische Störungen: Störungen des Sehsinns sind zu erfassen. Sie werden u.a. durch eine Verarmung an dopaminergen Retinazellen, Störungen der visuellen Cortex-Netzwerke und Störungen der okulomotorischen Kontrolle verursacht. Außerdem sind trockene Augen und Blepharitis häufige Symptome. (vgl. Seeing ophthalmologic problems in Parkinson disease, Borm, C.D.J.M. et al., 2020). Diese beeinträchtigen nach einer Erhebung von Borm et al. u.a. Tätigkeiten wie Lesen, Arbeiten am PC, Ausüben von Hobbies, Spazierengehen. Störungen des Geruchssinns können in bestimmten Berufen wie der Gastronomie problematisch sein.
- Psychische Störungen: In frühen Stadien stehen Ängste und Depressionen häufig im Vordergrund, die die berufliche Leistungsfähigkeit unbehandelt stärker gefährden können als die motorischen Defizite. Im weiteren Krankheitsverlauf kommen kognitive und dementielle Symptome hinzu, die dann die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.
Führen diese Teilhabedefizite dazu, dass die Erwerbsfähigkeit gefährdet ist oder bereits eine Erwerbsminderung eingetreten ist, sind Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu prüfen. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation dauern im Versorgungsbereich der Rentenversicherung üblicherweise 4 Wochen. Sie werden in neurologischen Fachabteilungen durchgeführt. Ergänzend sollte auch an Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation) gedacht werden. Diese können z.B. aus eine an den neurologischen Defiziten angepasste Einrichtung des Arbeitsplatzes bestehen oder aus berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, um eine innerbetriebliche Umsetzung (z.B. an einen Arbeitsplatz ohne Publikumsverkehr) zu ermöglichen (s. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben).
Einschätzung von Rehabilitationsbedarf, Rehabilitationsfähigkeit, Rehabilitationsprognose
Positiv umschrieben sind Leistungen zur medizinischen Rehabilitation bei Parkinson-Krankheit aus Sicht der Rentenversicherung dann indiziert, wenn überdauernde neurologische/ neuro-psychiatrische Defizite bestehen, die die berufliche Teilhabe derart beeinträchtigen, dass eine Minderung der Erwerbsfähigkeit droht oder bereits eingetreten ist und eine überwiegend positive Wahrscheinlichkeit besteht, dass diese durch medizinische Rehabilitation positiv beeinflusst werden können und damit auch die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben günstig eingeschätzt wird.
Reha-Bedarf
Dieser besteht, wenn durch die Folgen der Parkinson-Krankheit, die berufliche Leistungsfähigkeit erheblich gefährdet oder bereits eine Minderung der Erwerbsfähigkeit eingetreten ist. Die medizinische Rehabilitation soll die Krankheitsbewältigung verbessern und die Kompensation neurologischer Defizite und Stärkung vorhandener Ressourcen fördern.
Reha-Fähigkeit
Stationäre oder ganztägig-ambulante medizinische Rehabilitation kombiniert unterschiedliche Therapien: Physiotherapie, logopädische Therapie, Ergotherapie, Sporttherapie, medizinisches Muskeltraining, neuropsychologische Therapie, Gruppentherapien (Krankheitsaufklärung, Verbesserung der Krankheitsverarbeitung), Vorträge, die mehrere Stunden werk(täglich) angeboten werden. Dazu ist eine gewisse mentale und physische Belastbarkeit notwendig, die gutachterlicherseits beurteilt werden sollte. Bei geringerer Belastbarkeit und größerem Bedarf an Krankenpflege kommt eine neurologische Rehabilitation der Phase-C in Betracht. Bei besonderen Bedarfen sollte der Rehabilitationsträger darauf hingewiesen werden, dass die Auswahl der Reha-Klinik darauf ausgerichtet werden soll.
Reha-Prognose
Das Gutachten bzw. die beratungsärztliche Stellungnahme soll die Frage beantworten, ob die Gefährdung der Erwerbsfähigkeit bzw. eine bereits eingetretene Erwerbsminderung durch die vorgeschlagene medizinische Rehabilitation mit überwiegender Wahrscheinlichkeit wiederhergestellt werden bzw. eine Gefährdung der Erwerbsfähigkeit abgewendet werden kann.
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben stellen den Bereich der Leistungen zur Teilhabe dar, der die Leistungen zur Erhaltung oder zur Erlangung eines Arbeitsplatzes, zur beruflichen Anpassung, Berufsvorbereitung, Fort- und Weiterbildung, Ausbildung und Qualifizierung sowie finanzielle Hilfen umfasst.
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA; berufliche Rehabilitation) dienen dem Ziel, einen Arbeitsplatz zu erhalten oder dass der Versicherte / die Versicherte wieder in eine berufliche Tätigkeit eingegliedert wird.
Eine Sonderstellung nehmen neurologische Rehabilitationskliniken der Phase-II
ein. Sie umfassen sowohl Leistungen der medizinisch-neurologischen Rehabilitation als auch Leistungen der beruflichen Rehabilitation.
Gutachterlicherseits sollte immer an LTA gedacht werden, wenn der/ die Betroffene aufgrund der Folgen der Parkinson-Krankheit nicht mehr in den bisherigen Beruf zurückkehren kann, wenn aber eine Rückkehr ins Berufsleben in den allgemeinen Arbeitsmarkt (AAM) oder an den bisherigen Arbeitsplatz dann möglich erscheint, wenn LTA angeboten werden. Dazu gehören auch Maßnahmen, die die Wegefähigkeit des Versicherten erhalten.
Die Auswahl der geeigneten LTA geschieht durch die Rentenversicherung als Kostenträger.
Neu im Bereich der Rehabilitation sind die ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungen (EUTB), an die sich Betroffene wenden können und die im Dialog mit den Kostenträgern die Betroffenen über geeignete Reha-Leistungen beraten.
Leistungsvermögen
Konkrete Beschreibung der Auswirkung der Beeinträchtigung der Aktivitäten auf das Leistungsvermögen:
- Zuletzt ausgeübte Tätigkeit
- Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
- Beruf
Desweiteren zählen dazu:
- Qualitatives Leistungsvermögen
- Quantitatives Leistungsvermögen
- Voraussichtliche Dauer der Leistungseinschränkung
Nähere Informationen zu den o.g. Punkten erhalten Sie auf der Seite "Leitfaden für die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens".
Qualitatives Leistungsvermögen
Positives Leistungsvermögen
- Beschreibt Fähigkeiten des Versicherten/ der Versicherten, über die er/ sie noch verfügt
- Im Hinblick auf zumutbare körperliche Arbeitsschwere, Arbeitshaltung, Arbeitsorganisation
- Mindestens eine Körperhaltung muss überwiegend möglich sein (51-90 % der Arbeitszeit)
- Je nach Stadium der Parkinson-Krankheit sind ggf. noch leichte - bis mittelschwere Tätigkeiten in Tagschicht mit Möglichkeit zum Haltungswechsel möglich.
- Beim Erstellen des qualitativen Leistungsbildes sollten auch Anforderungen an die mentale Leistungsfähigkeit mit den Ressourcen der Patientin/ Patienten abgeglichen werden
Negatives Leistungsvermögen
- Umfasst die Fähigkeiten, die erkrankungs- oder behinderungsbedingt nicht mehr bestehen
- Umfasst die Fähigkeiten, die aufgrund der Gefahr einer gesundheitlichen Verschlechterung nicht mehr umsetzbar sind
- Die sozialmedizinische Beurteilung nach erfolgter medizinischer Rehabilitation kann hier die Erstellung eines Leistungsbildes ermöglichen
- Bei Parkinson-Krankheit sind häufig folgende Anforderungen nicht mehr möglich: Zwangshaltungen, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, Tätigkeiten mit erhöhter Verletzungsgefahr (z.B. Fräsemaschinen), Berufskraftfahren, besondere Anforderungen an Feinmotorik, besondere Anforderungen an das Sehvermögen und das räumliche Sehen, hohe Anforderungen an Konzentration und Reaktionsvermögen.
- Der Einzelfall soll medizinisch beurteilt werden, da jede Parkinson-Erkrankung individuell verläuft. Obige Liste kann daher nur eine Orientierung zur Prüfung geben.
- Ein Tremor kann evt. die Arbeit am PC erschweren. Hier sind LTA zur Umrüstung des Arbeitsplatzes (z.B. Sprachsteuerung) zu erwägen.
Quantitatives Leistungsvermögen
Einteilung
Gutachterlicherseits sollten die Befunde, die zur Aufhebung des beruflichen Leistungsvermögens führen, angeführt werden.
Sowohl das qualitative als auch das quantitative Leistungsvermögen werden sowohl im Hinblick auf den bisherigen Beruf als auch im Hinblick auf den allgemeinen Arbeitsmarkt (AAM) beurteilt. Wenn eine Minderung festgestellt wird, sollte geprüft werden, ob LTA geeignet sind, den Versicherten wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Rehakliniken der Phase-II können hier z.B. in Frage kommen.
Voraussichtliche Dauer der Leistungseinschränkung
- Prüfung, ob eine Besserung der Leistungsfähigkeit wahrscheinlich ist.
- Dies ist anzunehmen, wenn aus ärztlicher Sicht bei Betrachtung des bisherigen Verlaufes nach medizinischen Erkenntnissen unter Berücksichtigung der noch vorhandenen therapeutischen Optionen eine Steigerung des qualitativen und/oder quantitativen Leistungsvermögens noch möglich ist.
- Zeitliche Befristung der Renten aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit für längstens 3 Jahre nach Rentenbeginn.