Deutsche Rentenversicherung

Anpassungsstörungen

Krankheitsbild, Anamnese, Diagnostik, Therapie, Krankheitsverlauf und Prognose
Stand: 02.05.2023

Störungsspezifische Beschreibung

Anpassungsstörungen sind gemäß ICD-10 Zustände subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträchtigung, die als Reaktion auf ein kritisches Lebensereignis i. d. R. innerhalb eines Monats auftreten können.

Beispiele für derartige entscheidende Lebensveränderungen oder -ereignisse

  • Trauerfall, Trennungserlebnis, Emigration/Flucht, Umzüge
  • Auftreten beeinträchtigender oder existenziell bedrohlicher Erkrankungen oder schwerer Unfälle
  • Größerer Entwicklungsschritt wie Schulbesuch, Elternschaft, Erreichen eines ersehnten Zieles und Ruhestand
  • Arbeitsplatzverlust, Arbeitslosigkeit

  • Ohne die Belastung wäre das Krankheitsbild nicht entstanden
  • Die individuelle Prädisposition oder Vulnerabilität spielt gemäß ICD-10 bei dem möglichen Auftreten und bei der Form der Anpassungsstörung eine bedeutsame Rolle
  • Das auslösende Ereignis bei einer Anpassungsstörung ist eher eine Belastung, mit der viele Menschen im Laufe ihres Lebens konfrontiert werden und die Zustände subjektiven Leidens oder emotionaler Beeinträchtigung hervorruft
  • Das Ereignis liegt nicht länger als zwei Jahre zurück

Symptomatik

Die Symptome sind variabel und bestehen - in unterschiedlicher Ausprägung und Zusammensetzung - aus einem Mischbild:

  • Gedrückte Stimmung
  • Überforderungserleben
  • Angst, Besorgnis, Verbitterung, Wut
  • Anspannung, Hyperviglianz, Schreckhaftigkeit
  • Das Gefühl, das zugrunde liegende Ereignis nicht bewältigen zu können
  • Störungen des Sozialverhaltens
  • Schlafstörungen
  • Grübelneigung (gedankliches Verhaftetsein, exzessives Grübeln, Beschäftigung mit dem Stressor oder seinen Konsequenzen)
  • Konzentrationsstörungen
  • Anhedonie

Diagnose

Die Diagnose für dieses Störungsbild kann nur vergeben werden, wenn die nach einem kritischen Lebensereignis entwickelten Symptome nicht besser durch irgendeine andere Störung erklärt werden können.

Hinweise zur ICD-11

In der ICD-11 erfahren die Anpassungsstörungen zukünftig einige Veränderungen. Die ICD-11 ergänzt die bisherige ICD-10-Definition um die zwei neuen Kernsymptome Präokkupation und Fehlanpassung. Individuelle Prädisposition und Vulnerabilität spielen keine gesonderte Rolle mehr in der Ätiologie.

 

Diagnostische Kriterien nach ICD-11

  • Maladaptive Reaktion auf einen einzelnen oder mehrere psychosoziale Stressoren, die innerhalb eines Monats auftritt
  • Präokkupation mit dem Stressor oder dessen Konsequenzen (z. B. wiederkehrende beunruhigende Gedanken, ständiges Grübeln)
  • Fehlanpassung an den Stressor (was erhebliche Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen o. a. wichtigen Funktionsbereichen verursacht)
  • Die Symptome erfüllen nicht die Kriterien einer anderen psychischen Störung
  • Die Symptome bestehen üblicherweise nicht länger als 6 Monate nach Ende der Belastung, es sei denn der Stressor hält länger an


 

Anamnese

  • Störungsspezifische Beschreibung der Symptome
  • Nutzung von Therapieoptionen:
    • Psychotherapeutische Behandlungen (ambulant und/oder stationär)
    • Medikamentöse Behandlungen


 

Diagnostische Maßnahmen

Die Diagnosestellung erfolgt gemäß ICD-10, wenn ein identifizierbarer Auslöser vorhanden ist und der/die Betroffene in der Folge psychische oder Verhaltensauffälligkeiten entwickelt, die zu kurz dauern oder zu schwach ausgeprägt sind, um die Kriterien für eine andere psychische Störung zu erfüllen.

Diagnostische Kriterien

Quelle: AWMF-Register Nr. 051-029 Klasse: S2k Erstveröffentlichung: 04/2012 Überarbeitung von: 12/2019, Tab. 4.7

Tabelle: Wichtigste Unterschiede in den diagnostischen Kriterien von Anpassungsstörungen in der ICD-10- und der DSM-5-Klassifikation

Kriterium

ICD-10

DSM-5

Definition

Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung nach einem belastenden Lebensereignis – von nicht außergewöhnlichem oder katastrophalem Ausmaß mit Symptomen und Verhaltensstörungen, wie sie bei affektiven Störungen (F3) (außer Wahngedanken und Halluzinationen), bei Störungen des Kapitels F4 (neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen) und bei den Störungen des Sozialverhaltens (F91) vorkommen

Emotionale oder behaviorale Symptome unterhalb der diagnostischen Schwelle einer PTBS auf einen beliebig stark ausgeprägten Belastungsfaktor

Beginn der Symptomatik

innerhalb eines Monats nach dem belastenden Ereignis

innerhalb von 3 Monaten nach Beginn der Belastung

Dauer der Symptomatik

Wenn die Belastung oder deren Folgen beendet sind, dauern die Symptome (meist) nicht länger als weitere 6 Monate an – gemäß ICD-10 außer bei der längeren depressiven Reaktion

Schweregrad der Symptomatik

Störungsbild erfüllt nicht die Kriterien für eine andere psychische Störung (auch nicht einer leichten depressiven Episode), beinhaltet jedoch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen

Klinischer Untersuchungsbefund

Differenzialdiagnostik

Die Anpassungsstörung ist abzugrenzen v. a. von

  • PTBS
  • depressiven Episoden (alle Schweregrade)
  • Angststörungen

Zur Unterscheidung einer Anpassungsstörung von vorübergehenden oder anhaltenden affektiven Störungen wie beispielsweise einer leichtgradigen depressiven Episode (F32.0) oder der Dysthymia (F34.1) können als differenzialdiagnostische Kriterien dienen:

  • der zeitliche Verlauf der Störung
  • der Bezug zu einer Belastungssituation

Komorbiditäten

  • somatische Erkrankungen: Eine Anpassungsstörung kann auch nach schweren körperlichen Krankheiten (z. B. Karzinomerkrankung) oder nach Operationen auftreten
  • Substanzmissbrauch
  • Persönlichkeitsstörungen

 

Therapieoptionen

Medikamentöse Behandlung

  • Medikamentöse Behandlungen spielen bei der Anpassungsstörung i. d. R. keine Rolle, ggf. ist auf die Entwicklung eines (nicht selten ärztlich induzierten) Benzodiazepinabusus zu achten

Psychotherapeutische Behandlung und weitere Verfahren

  • Die Behandlungsmöglichkeiten bestehen zunächst aus supportiv-stützenden psychotherapeutischen Interventionen.
  • Bei drohender Chronifizierung sind spezifische psychotherapeutische Behandlungsverfahren, beispielsweise in Form einer Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologisch fundierter Verfahren, in Erwägung zu ziehen.
  • Betroffene mit berufsbezogener Anpassungsstörung können ggf. von einer berufsbezogenen psychosomatischen Rehabilitation profitieren.
  • Aus dem Bereich der kognitiven Verhaltenstherapie haben sich Problemlösetrainings als effektiv erwiesen.


 

Krankheitsverlauf und Prognose

  • Definitionsgemäß halten die Symptome nicht länger als sechs Monate an, sofern die Belastung oder deren Folgen beendet sind.
  • Anpassungsstörungen klingen meist ohne spezifische therapeutische Intervention innerhalb weniger Wochen/Monate ab.
  • Dauern die Belastung oder deren Folgen aber an, kann auch die Anpassungsstörung bestehen bleiben und persistieren.
  • Nach ICD-10 gibt es die Ausnahme der längeren depressiven Reaktion mit bis zu zwei Jahren Dauer.
  • Es besteht die Möglichkeit einer Chronifizierung mit Entwicklung weiterer psychischer Störungen. Die Indikation für eine ambulante Behandlung sollte ggf. frühzeitig gestellt werden.
  • Es besteht ein bis zu 12-fach erhöhtes Suizidrisiko verglichen mit Personen ohne Anpassungsstörung.
  • Steht das Thema Arbeit im Fokus, kann es zu Konflikten am Arbeitsplatz kommen durch störungsbedingte Einschränkungen bei:
    • stetig wachsenden Leistungsanforderungen.
    • zunehmender Komplexität von Tätigkeiten.
    • Schnelllebigkeit.
    • hohen Flexibilitätsanforderungen.