In diesem Kapitel wird nicht auf die traumatischen intrakraniellen Blutungen eingegangen (ICD-10 GM: S06.-)
Störungsspezifische Beschreibung
Schlaganfall ist definiert durch eine gefäßbedingte Erkrankung des Gehirns, die plötzlich ("Schlag") auftritt, dabei kommt es zu einer Schädigung von Hirngewebe.
Ursächlich ist entweder ein Gefäßverschluss:
- Ischämischer Schlaganfall (ca. 80 % der Schlaganfälle)
- Oder (seltener) eine Blutung aus cerebralen Gefäßen
- Als Ursache kommen bei den ischämischen Schlaganfällen entweder pathophysiologische Veränderungen an den Hirngefäßen direkt (extra- oder intrakraniell) oder embolische bzw. kardiale Ursachen in Frage.
Die Diagnose beruht auf der Anamnese und der neurologischen Untersuchung, die cerebrale Bildgebung dient der Differentialdiagnose und dem Ausschluss von Kontraindikationen für eine eventuelle Lyse-Therapie (u.a. intrazerebrale Blutungen).
Pathophysiologisch entsteht bei dem ischämischen Schlaganfall eine Kernzone mit abgestorbenen Nervenzellen, die von einem Randbereich noch nicht irreversibel geschädigten Hirngewebes (Penumbra) umgeben ist. Die Notfalltherapie dient dem Erhalt dieser Nervenzellen durch Revaskularisierung, die durch Lyse innerhalb eines Zeitfensters oder /und endovaskulären Therapien erreicht werden kann.
Die Zeit zwischen ersten Symptomen und Einleitung einer spezifischen Therapie zur Revaskularisierung ist der kritische Faktor für ein möglichst behinderungsfreies Überleben ("Time is brain"). Deswegen wird unter präventiven Gesichtspunkten die Bevölkerung über Symptome, die auf einen Schlaganfall hinweisen können, aufgeklärt mit dem Ziel, der schnellen Alarmierung des Rettungsdienstes.
Die klinische Symptomatik ist geprägt von einem akut auftretenden neurologischen Defizit, das ein oder mehrere Funktionssysteme betreffen kann (Motorik, Sensorik, Sensibilität, Bewusstsein, Gleichgewicht, neuropsychologische Funktionen, Sprechen, Sprache, Schlucken etc.). Ein initialer epileptischer Anfall ist möglich. Bei Infarkten im hinteren Stromgebiet oder bei intracerebralen Blutungen/Subarachnoidalblutungen kann auch Kopfschmerz auftreten. Die initiale Symptomatik kann einen passageren, konstanten, progredienten oder auch undulierenden Verlauf nehmen.
Angestrebt wird, dass alle akuten Schlaganfallpatienten auf einer zertifizierten Stroke Unit behandelt werden, um klinische Verschlechterungen oder medizinische Komplikationen rechtzeitig erkennen und behandeln und mit rehabilitativen Maßnahmen früh beginnen zu können.
Beeinflussbare Risikofaktoren
- Bluthochdruck, Übergewicht (BMI/ Taillenumfang) korrelierend mit Hyperlipidämie
- Diabetes mellitus, Rauchen
- hoher Kochsalzkonsum
- Luftverschmutzung
Der hausärztlichen Behandlung und der Schulung der Betroffenen wie diese Risikofaktoren modifiziert werden können, kommt daher bei der Sekundär- und Tertiärprävention eine große Rolle zu.
Durch die medikamentöse Sekundärprophylaxe soll ein Schlaganfallrezidiv verhindert werden.
Epidemiologie
Prävalenz
Die 12-Monats-Prävalenz beträgt nach der GEDA 2014/2015-EHIS Studie 1,6 % der Erwachsenen in Deutschland. Dabei war die Prävalenz für Frauen etwas höher (1,7 %) und für Männer etwas niedriger (1,5 %).
Dabei steigt die Prävalenz mit zunehmenden Lebensalter stark an: Im Alter ab 75 J. auf bis zu 6,3 %.
Mortalität
- 2013 starben in Deutschland 58.556 Personen an einer zerebrovaskulären Erkrankung (ICD-10: I60-I69). Dies entspricht einer Mortalitätsrate von 6,6 %. Damit ist der Schlaganfall die zweithäufigste Todesursache nach der koronaren Herzkrankheit.
- 2020 betrug die Mortalität an cerebrovaskulären Krankheiten in Deutschland:
- 53.308 (männlich: 23.329 / weiblich: 29.979).
Diagnostische Klassifikation (ICD-10 GM)
- I63.- Akuter Hirninfarkt, I61.- Intrazerebrale Blutung, I62.- Sonstige nichttraumatische intrakranielle Blutung, I64 Schlaganfall, nicht als Blutung oder Infarkt bezeichnet.
Diagnosekriterien ICD-10 GM für den Hirninfarkt
- Verschluss und Stenose zerebraler und präzerebraler Arterien (einschließlich Truncus brachiocephalicus) mit resultierendem Hirninfarkt.
- Intrazerebrale Blutung und sonstige nichttraumatische intrakranielle Blutung (hämorrhagischer Schlaganfall).
Anamnese
- Störungsspezifische Beschreibung der Symptome
- Nutzung von Therapieoptionen:
- Medikamentöse Behandlungen
- Psychotherapeutische Behandlungen (ambulant und/oder stationär)
- Link zu einem Muster für die Anamneseerhebung
- Die dort gelisteten Punkte geben Hinweise auf eine vollständige Anamnese, müssen aber nicht bei jedem Krankheitsbild einzeln aufgeführt werden.
Störungsspezifische Anamnese
- Zeitlicher Verlauf (vorausgegangene kardio-vaskuläre Ereignisse, zeitlicher Ablauf der Akutsymptomatik)
- Störungsspezifische Beschreibung der Symptome:
- Motorische Beeinträchtigungen und Auswirkungen auf das Funktionsniveau
- Sensorische Defizite (u. a. neurovisuell, somatosensibel)
- Die neurologische Symptomatik wird dabei zusammenfassend häufig durch Anzahl an Punkten der National Institute of Health Stroke Scale (NIHSS) von 0 (keine Einschränkungen) bis 42 (schwerst Betroffen) angegeben
- Neuropsychiatrische Symptome (z. B. depressive Störung als Schlaganfallfolge, u. a.)
- Neurokognitive Defizite (z. B. Störungen von Aufmerksamkeit, Gedächtnis und exekutiven Funktionen)
- Gezielt sollte nach zentralen Schmerzstörungen Central post stroke pain (CPSP) gefragt werden
- Desgleichen sollte die Möglichkeit eines Complex Regional Pain Syndrome (CRPS) bedacht werden
- Reduzierte Belastbarkeit und Symptome einer Fatigue sollten erfasst werden
- Weitere krankheitsbedingte Folgen: bspw. Kontrakturen, Dekubiti
- Notwendige Hilfsmittelversorgung
- Vorbehandlungen (auch bereits erfolgte Rehabilitationen)
- Grad der Selbstversorgung, Pflegegrad?, Unterstützung bei Aktivitäten des täglichen Lebens erforderlich?
- Auswirkungen auf berufliche Teilhabe
- Vorbehandlungen
Somatische und psychische Anamnese
- Erfragung weiterer aktueller körperlicher oder psychischer Erkrankungen, ggf. Wechselwirkung zwischen psychischer Störung und somatischen Erkrankungen
- Erkrankungen in der Vorgeschichte
Vegetative Anamnese
- Inappetenz
- Anamnese bzgl. Nikotin, Alkohol und andere Drogen
- Ernährungsgewohnheiten (beispielsweise Fleischkonsum, vegane Ernährung u.s.w.)
- Lebensstil: Bewegung, Sport
- Schlafstörung
- Schnarchen mit Apnoephasen
- Kontinenzprobleme
- Gewichtsveränderungen
- Hyperhidrosis / Hypohidrosis
- Sexuelle Dysfunktionen
Arbeits- und Sozialanamnese
- Schulbildung, erreichter Schulabschluss
- Ausbildung, berufliche Qualifikation
- Bisherige Tätigkeiten
- Derzeitige berufliche Tätigkeit
- Gesundheitlich bedingter Tätigkeitswechsel / Berufswechsel
- Soziales Umfeld
- Entwicklung der Lebenssituation
- Partnerschaftliche / familiäre / soziale Integration
- Selbstständigkeit in der Lebensführung Kindererziehung
- Pflege von Angehörigen
- Finanzielle Situation
- Wohnsituation
Biografische Entwicklung und Familienanamnese
- Krankheitsrelevante Belastungen in Kindheit, Jugendalter, Erwachsenenalter
- Neuropsychiatrische und somatische Familienanamnese
Mobilität
- Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln
- Transportmittel zum Aufsuchen des Gutachters / der Gutachterin
- Anreise zur Reha-Einrichtung
- Fahrtauglichkeit
Diagnostische Maßnahmen
Klinischer Untersuchungsbefund
- Allgemeiner körperlicher Untersuchungsbefund
- Weitere Informationen: Das ärztliche Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung, DRV-Schrift 21, S. 55
Fachspezifischer Untersuchungsbefund
- Die neurologische körperliche Untersuchung soll zur Beschreibung eines neurologischen Syndroms und zur Beantwortung der Frage führen inwieweit neurologische Defizite aus fachärztlicher Sicht belegt werden können
Neuropsychologischer und psychischer Befund
- Basisfunktionen der Kognition und psychischen Funktionen
- Hinweise auf hirnorganische Defizite
- Auf Symptome für eine Post-Stroke-Depression und Angststörung sollte geachtet werden
- Wahrnehmung und subjektive Beurteilung erkrankungsbedingter Einschränkungen ("awareness")
Apparative Diagnostik
- Laborparameter
- Bereits durchgeführte diagnostische Maßnahmen müssen hier angeführt und die Ergebnisse kurz beschrieben werden, soweit Sie für die gutachterliche Fragestellung relevant sind
- Zusätzliche z.B. elektrophysiologische Untersuchungen können ggf. notwendig werden. Es empfiehlt sich eine Rücksprache mit dem Auftraggeber der Begutachtung.
Testpsychologische Diagnostik
Eine neuropsychologische Zusatz-Begutachtung kann notwendig werden, wenn eine detaillierte Diagnostik von Art und Ausmaß kognitiverLeistungsminderung und ihres Zusammenhanges mit emotionalen Belastungen für die Begutachtung erforderlich sind. Dies kann z. B. der Fall sein, wenn minimale Störungen kognitiver Funktionen (Aufmerksamkeit, Mnestik, u. a.) vermutet werden, die ggf. erst unter beruflicher Belastung auftreten und in der Begutachtungssituation teilkompensiert sind. Sie kann auch notwendig werden bei Hinweisen auf Aggravation/ Simulation/ Konversion/ Dissimulation, also wenn für die Fragestellung des Gutachtens ein relevanter Objektivierungsbedarf vorliegt.
Differenzialdiagnostik
- Unabhängig vom cerebrovaskulären Insult bestehende somatische oder psychische Erkrankungen sollten erwogen werden
Therapieoptionen
Der zeitliche Ablauf der Schlaganfallbehandlung besteht aus:
- Präklinische / Notfallversorgung (Rettungsdienst)
- Klinische Akutbehandlung ggf. mit Lysetherapie und/oder interventioneller Schlaganfalltherapie. Anschließend vorrangige Behandlung auf einer Stroke-Unit zur Überwachung, sowie Management/ Verhinderung von Komplikationen, erste rehabilitative Behandlungen
- neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation
- Anschlussheilbehandlung / Rehabilitation (Phase C, D)
- Nachsorge (ggf. Phase E, F)
Abbildung: Phasenmodell
Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund
Medikamentöse Behandlung in der post-akuten Phase (Sekundärprävention)
- Thrombozytenfunktionshemmer: bspw. ASS, Clopidogrel, Ticagrelor
- Orale Antikoagulation einschließlich direkter oraler Antikoagulantien
- Statine (Cholesterinsenker)
Nicht-medikamentöse Behandlung
- frühe Rehabilitation, bedarfsweise unter Einbezug von Ergo-, Physiotherapie, Logotherapie, neuropsychologischer Therapie
- Multiprofessionelle Neurorehabilitation der Phasen B - D
- Ambulante Behandlung: bspw. Ergo-, Physiotherapie, Logotherapie, Neuropsychologische Therapie
Krankheitsverlauf und Prognose
90% des Schlaganfallrisikos sind auf beeinflussbare Risikofaktoren zurückzuführen (Arterielle Hypertonie, Herzrhythmusstörungen, Hypercholesterinämie, Adipositas, Diabetes mellitus und Nikotinkonsum). Der Prävention kommt daher eine entscheidende Bedeutung zu.
- Abhängig von der Ausprägung und Lokalisation der geschädigten Hirnareale können u. a. Defizite in folgenden körperlichen Funktionen auftreten:
- Bewegung und Mobilität: Arm- und Beinparesen, Orofaziale Paresen, Apraxie, Spastik, Störungen der posturalen Kontrolle, Stürze, Schwindel
- Sprache, Sprechen und Kommunikation
- Sinneswahrnehmung
- Mentale bzw. hirnorganische Funktionen (Kognition, Verhalten, Persönlichkeit)
- Schlucken, Urogenitalsystem, Verdauung und Sexualität
- Psychophysische Belastbarkeit / Fatigue
Der Verlauf der Erholung (Restitution) hängt von der Art der cerebro-vaskulären Schädigung ab. Nach DGNR-Leitlinie werden in der Literatur Wiedereingliederungsraten von 19 bis 73 % berichtet, wobei ein großer Anteil der Betroffenen mit deutlichen Einschränkungen zurechtkommen muss. Prognostisch günstig ist dabei ein jüngeres Lebensalter, ein hoher Ausbildungsgrad, bestehendes Beschäftigungsverhältnis, ein höherer Beschäftigungsstatus (also Stellung in der Firmenhierarchie – ausgenommen Führungspositionen mit außertariflichen Verträgen) neben weiteren – zumeist bei widersprüchlicher Datenlage – unklaren Risikofaktoren sind kognitive Defizite (auch geringfügige, die im klinischen Alltag leicht übersehen werden) für die berufliche Prognose zu beachten.