Deutsche Rentenversicherung

Multiple Sklerose

Krankheitsbild, Anamnese, Diagnostik, Therapie, Krankheitsverlauf und Prognose
Stand: 05.12.2024

Diagnostische Klassifikation (ICD-10 GM): G35.-

Störungsspezifische Beschreibung

Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste Autoimmun-Erkrankung des zentralen Nervensystems, die das Rückenmark und das Gehirn umfassen kann. Die genaue Ursache ist ungeklärt. Genetische und Umwelteinflüsse führen zu einer Fehlregulation des Immunsystems. Chronisch-entzündliche Prozesse führen dabei zu Läsionen an den Bahnen des ZNS und im Bereich der Hirnrinde. Im Verlauf kommt es zu einem Verlust der Myelinscheiden der axonalen Nervenbahnen sowie zum Untergang von Nervenzellen. Entzündungsherde können sowohl im Rückenmark als auch im Gehirn an unterschiedlichen Orten entstehen (typischerweise kortikal, juxtakortikal, periventrikulär, infrantentoriell und spinal). Die Krankheit kann schubförmig mit Phasen der (partiellen) Remission verlaufen oder einen chronisch-progredienten Verlauf entwickeln. Sie führt zu multifokalen ZNS-Läsionen, die sich klinisch als Defizite in allen neurologischen Funktionssystemen äußern können.

Abhängig von der Lage der Läsionen im ZNS können daher alle Symptome auftreten, die in unterschiedlichen funktionellen Orten im Gehirn und Rückenmark durch Schädigungen verursacht werden können. Folgende Symptome seien aber beispielhaft erwähnt: Optikusneuritis mit Sehstörungen, sensomotorische und koordinative Defizite, Kleinhirn-, Blasen- und Mastdarmstörungen. Hinzu kommen Spastik, hirnorganische/kognitive Defizite, Depression/psychische Symptome, Chronic-Fatigue-Syndrom, Temperaturempfindlichkeit (Uhthoff-Phänomen), Sprach- und Schluckstörungen, Störungen der Sexualität.

Zur systematischen Erfassung (auch in Medikamentenstudien) der Symptombelastung bei MS hat sich unter anderen Skalen die Expanded Disability Status Scale (EDSS) nach Kurtzke durchgesetzt, die allerdings stark auf die Funktion der unteren Extremitäten, Hilfsmittel und die Pflegebedürftigkeit abzielt und je nach Tagesform variieren kann.

Die Diagnostik stützt sich vorrangig auf die neurologische Anamnese, den klinisch-neurologischen Untersuchungsbefund, die MRT-Diagnostik des Gehirns und Rückenmarks und die Liquoruntersuchung (Nachweis oligoklonaler Banden) sowie neuere Biomarker wie einer Erhöhung der Neurofilament-Blutlevel. Dabei werden bei der Diagnosestellung die McDonald-Kriterien als Referenz zugrunde gelegt. Die letzte gültige Fassung ist von 2017 und 2024/2025 wird eine überarbeitete Fassung erwartet.

Epidemiologie

Die MS ist die häufigste Autoimmunerkrankung des ZNS. Nach Angaben des Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung wurde die Diagnoseprävalenz im Jahr 2010 in der ambulanten und stationären Versorgung auf 0,3 % beziffert. Die jährliche Inzidenz unter den gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland lag 2022 bei 9.957 (15,73 Neuerkrankungen auf 100.000 Versicherte). Sie lag dabei in den Jahren seit 2015 relativ stabil um die 10.000 Neuerkrankungen jährlich. Der Anteil von Frauen liegt dabei höher, sie erkranken etwas mehr als doppelt so häufig an MS wie Männer (2022: 6.886 (weiblich) vs. 3.071 (männlich)). Die DGN schätzt, dass ca. 250.000 Menschen in Deutschland an MS erkrankt sind

 
 

Anamnese

Störungsspezifische Anamnese

  • Störungsspezifische Beschreibung der Symptome
  • Nutzung von Therapieoptionen:
    • Medikamentöse Behandlungen (symptomatisch und immunmodulatorisch mit Erfassung etwaiger Nebenwirkungen)
    • Weitere therapeutische Behandlungsoptionen wie Hilfsmittel, Heilmittel, rehabilitative Verfahren

  • Link zu einem Muster für die AnamneseerhebungDie dort gelisteten Punkte geben Hinweise auf eine vollständige Anamnese, müssen aber nicht bei jedem Krankheitsbild einzeln aufgeführt werden.

Somatische und psychische Anamnese

  • Erfragung weiterer aktueller körperlicher oder psychischer Erkrankungen, ggf. Wechselwirkung zwischen psychischer Störung und somatischen Erkrankungen
  • Erkrankungen in der Vorgeschichte: gezieltes Erfragen neurologischer Symptome in der Vergangenheit, die seinerzeit vielleicht nicht als MS-Schub gedeutet wurden, im Nachhinein aber so eingeordnet werden müssen. Hierbei können objektive Befunde in der klinischen Untersuchung oder apparativen Diagnostik (z.B. evozierte Potentiale) als unterstützende Hinweise betrachtet werden

Vegetative Anamnese

  • Inappetenz
  • Schlafstörung
  • Schnarchen mit Apnoephasen
  • Kontinenzprobleme
  • Gewichtsveränderungen
  • Hyperhidrosis / Hypohidrosis
  • Sexuelle Dysfunktionen
  • Fatigue

Mobilität

  • Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln
  • Erforderliche Begleitperson
  • Transportmittel zum Aufsuchen des Gutachters / der Gutachterin
  • Anreise zur Reha-Einrichtung
  • Kraftfahreignung



Diagnostische Maßnahmen

Klinischer Untersuchungsbefund

Fachspezifischer Untersuchungsbefund

  • Die eingehende neurologische körperliche Untersuchung soll zur Beschreibung eines neurologischen Syndroms und zur Beantwortung der Frage führen, inwieweit neurologische Defizite aus fachärztlicher Sicht belegt werden können.
  • ggf. ist eine ophthalmologische (Zusatz-) Begutachtung notwendig.

Neuropsychologischer und psychischer Befund

  • Basisfunktionen der Kognition und psychischen Funktionen (z.B. Orientierung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive Funktionen, formales Denken, Affektivität, weitergehende Information im Anhang der DRV-Schrift 21, S. 55) Ggf. können standardisierte Tests zur Anwendung kommen: Symbol Digit Modalities Test (SDMT), Brief International Cognitive Assessment for MS (BICAMS) (Goverover et al. 2016)
  • Hinweise auf hirnorganische Defizite
  • Ggf. kann zur Klärung die berufliche und soziale Teilhabe gefährdenden neuropsychologischen (diskreten) Defiziten eine neuropsychologische Zusatz-Untersuchung / Begutachtung notwendig werden, falls o.g. lokal durchgeführte Testungen nicht ausreichen. In diesem Fall wird empfohlen vorab das Einverständnis des Auftraggebers (bzw. der Rentenversicherung) einzuholen
  • Fatigue-Symptomatik (Standardisierte Fragebögen wie Fatigue Skala für Motorik und Kognition (FSMC) (Penner et al. 2009), Würzburger Erschöpfungsinventar bei MS (WEIMuS) (Flachenecker et al. 2006))

Apparative Diagnostik

  • In der ambulanten oder stationären Vorbehandlung werden bei Erkrankung oder bei V.a. MS nach der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN: "Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen" s. Kap. 4) folgende Untersuchungen erwartet: cMRT und MRT des Rückenmarks (McDonald-Kriterien) und eine Liquoruntersuchung.
  • Elektrophysiologische – neurologische Diagnostik zur Objektivierung von Nervenläsionen: z.B. Visuell Evozierte Potenziale (VEP), insbesondere bei Anamnese für Optikusneuritis sind ergänzend sinnvoll.

Diese Untersuchungen liegen daher meistens vor und sollten, soweit es dem Begutachtungsauftrag dient, zusammenfassend dargestellt werden.

Ggf. wird eine Rücksprache mit dem Auftraggeber bzw. der Rentenversicherung empfohlen, ob die Kosten für weitere Diagnostik durch den neurologischen Gutachter/ die Gutachterin übernommen werden.

Testpsychologische Diagnostik

Eine neuropsychologische Zusatz-Begutachtung kann notwendig werden, wenn eine detaillierte Diagnostik von Art und Ausmaß kognitiver Leistungsminderungen für die Begutachtung erforderlich sind. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn minimale Störungen kognitiver Funktionen (Aufmerksamkeit, Mnestik, u.a.) vermutet werden, die ggf. erst unter beruflicher Belastung auftreten und in der Begutachtungssituation teilkompensiert sind. Auch zur genaueren Beschreibung / Erfassung von Fatigue kann eine neuropsychologische Diagnostik notwendig werden.

Differenzialdiagnostik

Unabhängig von der MS-Erkrankung bestehende somatische oder psychische Erkrankungen sollten erwogen werden.



Therapieoptionen

Hinweis zur medikamentösen Behandlung

Beachte: Im Folgenden werden Medikamente aus der DGN Leitlinie (DGN One | Leitlinie Details) zitiert, um zu veranschaulichen, wie sich die heutige MS-Therapie darstellen kann. Der Punkt "Medikamentöse Behandlung" – wie alle Texte des Begutachtungsportals - gibt keine Empfehlungen zur medizinischen Therapie in der Praxis und ist nur zur Unterstützung der sozialmedizinischen Begutachtung intendiert.

Medikamentöse Therapie eines entzündlichen Schubes

Schubtherapie der MS (s. DGN LL, Kap. 4):

  • Erfolgt mit Glukokortikosteroiden (GKS) (i.v. standardmäßig mit Methylprednisolon in hoher Dosierung über drei bis fünf Tage oder alternativ mit oraler Medikation)
  • Alternativ zur ultrahochdosierten GKS-Pulstherapie kann eine Apheresetherapie erfolgen

Verlaufsmodifizierende Therapie

  • Immuntherapeutika: Beta-Interferone, Glatirameroide, Dimethylfumarat und Diroximelfumarat, Teriflunomid, Cladribin, Sphingosin-1-Phosphat (S1P)-Rezeptor-Modulatoren, Cladribin, Natalizumab, Anti-CD20-Antikörper, Alemtuzumab. Andere Immuntherapeutika: Azathioprin, Methotrexat, Cyclophosphamin (s. DGN LL, Kap. 4).
  • einige Medikamente der Verlaufsmodifizierenden Therapie (disease modifiying therapy / DMT) werden als Infusion oder als subcutane Injektionen verabreicht - dann ist eine Gabe durch die Patienten häufig selber möglich - (Ausnahme Ocrelizumab und Natalizumab). Sie erfordern regelmäßige ärztliche und Laborkontrollen. Dies ist bei der Beurteilung der Beeinträchtigung der sozialen/ beruflichen Teilhabe zu berücksichtigen. Auch ist die Schulung der Patienten/ - innen notwendig, um eine sichere Therapie zu gewährleisten. Zum Teil kommt es zu Nebenwirkungen der Therapie, die die berufliche Teilhabe weiter einschränken können.

Symptomatische Therapie der Krankheitsfolgen

  • DGN LL, Kap. 4
  • Antispastische Therapie
  • orale Antispastika: Baclofen, Tizanidin
  • Nabiximol (THC/ CBD-Kombinationspräparat)
  • Cannabinoide
  • Gabapentin
  • Botulinumtoxin A
  • Baclofen intrathekal
  • Kortison intrathekal
  • Schmerztherapie:
    • paroxysmale Schmerzen: Carbamazepin, Gabapentin, Pregabalin
    • chronische schmerzhafte Missempfindungen: Amitriptylin, Carbamazepin, Gabapentin
    • Gelenk-, Muskel- und Wirbelsäulenschmerzen: Physiotherapie, Schmerzmedikamente, antispastische Medikation
  • Grippale Symptome unter Interferon: Paracetamol, NSAR, lokale Kühlung
  • Therapie der Fatigue mit u.a. Amantadin, Modafinil, SSRI (bei gleichzeitig oder alleinig) vorhandener depressiver Verstimmung (s. DGN LL)
  • Therapie einer komorbiden depressiven Störung (s. S3-Leitlinie/ Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression)
  • Medikamentöse Therapie der Gangstörung: Fampridin
  • Therapie der neurogenen Blasenstörung/ Reduktion der Detrusoraktivität: Anticholinergika (Oxybutynin, Tolterodin)
  • Hemmung des Blasensphinkters: Antispastika, Alphablocker
  • Weitere Medikamente werden in der Praxis symptomatisch verwendet, teilweise mit Empfehlung durch die o.g. DGN-Leitlinie
  • Botulinumtoxin intravesikal

Nicht-medikamentöse Behandlung

  • DGN LL, Kap. 4
  • Physiotherapie
  • Ergotherapie
  • Logopädie
  • Hippotherapie
  • Psychotherapie
  • neuropsychologische Therapie
  • psychosoziale Betreuung (einschl. Selbsthilfe)
  • Hilfsmittelversorgung
  • multimodale Rehabilitation



Krankheitsverlauf und Prognose

Mauch (in Neurowissenschaftliche Begutachtung, B Widder, P W Gaidzik (Hrsg.) / s.DGN LL, Kap. 4) gibt folgende durchschnittliche Erkrankungsdauern bis zum Erreichen bestimmter Schädigungsfolgen an:

  • Nach 8,4 Jahren sei durchschnittlich mit einer eingeschränkten Gehfähigkeit zu rechnen, mit 20-jähriger Dauer sei Gehen mit einseitiger Hilfe im Durchschnitt noch möglich und mit ca. 30 Jahren trete durchschnittlich eine überwiegende Rollstuhlabhängigkeit an.
  • Nach Kesselring (zitiert nach Mauch ebd.) sind 5 Jahre nach Krankheitsbeginn ca. 1/3 der Betroffenen noch uneingeschränkt arbeitsfähig. Nach mehr als 10 Jahren dagegen nur noch 10 %.

Für die Prognose relevant ist, wie schnell ein EDSS von 4 erreicht wird (gehfähig ohne Hilfe und Rast für eine Strecke von mindestens 500 Metern. Ungünstige prognostische Faktoren sind das männliche Geschlecht, später Krankheitsbeginn, polysymptomatischer Krankheitsbeginn, motorische, zerebelläre oder Sphinktersymptome, inkomplett remittierte Schübe und eine hohe Schubfrequenz (vgl.DGN LL, Kap. 4). Des Weiteren ungünstig ist eine hohe Läsionslast zum Zeitpunkt der Diagnose.

Die Prognose hängt aber sehr vom individuellen Schädigungsmuster ab. Schließlich verändert sich die durchschnittliche Prognose derzeit seit der Einführung wirksamer den Verlauf modifizierender Immuntherapie (DMT).