Deutsche Rentenversicherung

ICF und Begutachtung

 

Die ICF im Kontext des sozialmedizinischen Gutachtens

Das SGB IX – "Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" gilt seit dem Jahr 2001 und steht für einen Paradigmenwechsel: die Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen soll gefördert werden, der Fürsorgegedanke tritt in den Hintergrund. Diesem Grundsatz folgend wurde die ICF durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) im Jahr 2016 in die Revision des Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX) einbezogen. Seitdem ist unter anderem eine individuelle und funktionsbezogene Bedarfsermittlung anhand ICF-orientierter Instrumente in Rehabilitation und Eingliederungshilfe vorgeschrieben (vgl. §§ 13, 26, 118 SGB IX).


Für die sozialmedizinische Beurteilung im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung ist insbesondere die Betrachtung der Funktionsfähigkeit und der beruflichen Teilhabe bedeutsam. Funktionsfähigkeit (engl. "functioning", früher funktionale Gesundheit) kann so verstanden werden, dass eine Person trotz einer Erkrankung:

  • in ihren körperlichen Funktionen (einschließlich des geistigen und seelischen Bereichs) und ihren Körperstrukturen allgemein anerkannten (statistischen) Normen entspricht (Konzept der Körperfunktionen und -strukturen),
  • all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem (im Sinne der ICD) erwartet wird (Konzept der Aktivitäten), und
  • ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne Schädigungen der Körperfunktionen oder -strukturen oder Beeinträchtigung der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Teilhabe).

Die Verwendung der Begrifflichkeiten des bio-psycho-sozialen Modells hat auf mehreren Ebenen positive Auswirkungen auf die Gutachtenqualität:

  • sie bietet eine strukturierte, einheitliche und transparente Darstellung der Informationslage und der daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen,
  • sie ermöglicht eine bessere Nachvollziehbarkeit der gutachterlichen Beurteilung für die Versicherten sowie die Sozialgerichtsbarkeit.

Eine Schwäche der ICF liegt dagegen darin, dass sie lediglich eine Momentaufnahme abbildet und somit keine Schlüsse auf die Ätiologie oder Prognose von Gesundheitsproblemen zulässt.

Auch unter Verwendung der ICF-Begrifflichkeiten dürfen im Rahmen sozialmedizinischer Gutachten selbstverständlich nur solche Sachverhalte erhoben und dokumentiert werden, die für Entscheidungen im Zusammenhang mit der Begutachtung relevant sind.

 
 

Exkurs: Die ICF als Klassifikationssystem

Die ICF als Klassifikationssystem bietet darüber hinaus die Möglichkeit, eine Momentaufnahme des funktionellen Gesundheitszustandes einer Person in ihren bestehenden Lebensumständen differenziert alphanumerisch zu kodieren.

Wichtig: Im Rahmen der Begutachtung verfehlt die Kodierung das Ziel einer übersichtlichen und stringenten sozialmedizinischen Beweisführung und soll daher hier nicht im Fokus stehen. Auch im klinischen Alltag wird eine solche Kodierung von Seiten der Rentenversicherung nicht erwartet.

Die ICF als Klassifikationssystem ermöglicht eine internationale Vergleichbarkeit sozialmedizinischer Daten und ist insbesondere zu Forschungszwecken wertvoll. Auch zur Verlaufsdarstellung kann eine Beurteilung mittels ICF-Klassifikation zu verschiedenen Zeitpunkten des Therapieverlaufes hilfreich sein.

Zur leichteren Orientierung hat die ICF Research Branch der WHO so genannte ICF Core Sets erarbeitet, indikationsspezifische ICF-Kurzlisten. In diesen wurden aus der Vielzahl möglicher Kategorien jeweils die besonders relevanten Kodes für eine Reihe häufiger Erkrankungsbilder zusammengestellt. Diese Core Sets lassen sich je nach individuellem Bedarf um beliebig viele zusätzliche Kodes erweitern. Jedem Kode wird jeweils mindestens ein Beurteilungsmerkmal zugeordnet. Die Beurteilungsmerkmale beschreiben z.B. das Ausmaß einer Schädigung, die Art einer Veränderung oder eine Lokalisation. Da die ICF selbst kein Assessmentinstrument darstellt, muss zur Abschätzung des Ausmaßes einer Schädigung auf etablierte Instrumente zurückgegriffen oder im Team eine subjektive Einschätzung abgestimmt werden. Für die sozialmedizinische Begutachtung spielt die ICF als Klassifikationssystem keine Rolle.