Grundlagen der sozialmedizinischen Beurteilung
Beschreibung der Funktionsstörungen und resultierenden Beeinträchtigungen der Aktivitäten
Im Kontext der DRV ist neben der ätiologischen Beschreibung der Krankheitsbilder mittels ICD wichtig, welche Beeinträchtigungen für den Betroffenen daraus entstehen.
Störungsspezifische Darstellung der Funktionsstörungen
- Anzahl/Art der Symptome/Beschwerden
- Intensität der Symptome/Beschwerden
- Häufigkeit und Dauer der Symptome/Beschwerden
- Subjektiver Leidensdruck
- Subjektives Beeinträchtigungserleben
- Vorhandene Ressourcen in diesem Bereich
- Auswirkung auf Aktivität/Partizipation
Körperfunktionen und-Strukturen
Pathogenetisch werden bei beiden Diabetes-Typen unterschiedliche Schädigungsmuster unterschieden:
- Beim Diabetes mellitus Typ 1 schädigt die autoimmunologisch vermittelte Zerstörung des Pankreasgewebes mit konsekutiv absolutem Insulinmangel unmittelbar weitere Organsysteme des Körpers. Die Schädigung liegt primär in der Zerstörung des endogenen Pankreasgewebes.
- Beim Diabetes mellitus Typ 2 besteht meist eine ausreichende Insulinproduktion bei jedoch verminderter peripherer Wirksamkeit. Die Schädigung liegt hier demnach peripher an den rezeptiven Körperzellen.
Beim Schädigungsmuster der Körperfunktionen ist zwischen
- unmittelbaren (durch die Hyperglykämie verursachten) Störungen und
- mittelbaren (durch die langandauernde Hyperglykämie bedingten) Folgeschäden an unterschiedlichen Organsystemen
zu differenzieren.
Zu den wichtigsten unmittelbaren (Hyperglykämie-bedingten) Störungen der Körperfunktionen zählen:
- Störungen im Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushalt (Polyurie, Polydipsie, nächtliche Wadenkrämpfe, Sehstörungen)
- Müdigkeit und Konzentrationsstörungen
- Störungen der Immunabwehr (Infektanfälligkeit, bakterielle/mykotische Hautinfektion)
- Beeinträchtigungen der Sexualfunktion (Amenorrhoe, Erektionsstörungen)
Für die sozialmedizinische Beurteilung stehen folgende mittelbare (durch die langandauernde Hyperglykämie bedingte) Folgeerkrankungen sowie Spätkomplikationen im Vordergrund:
- Gehirn: Makro- und mikrovaskuläre Veränderungen in Form von zerebrovaskulären Durchblutungsstörungen
- Nervensystem: Schädigung des Nervensystems in unterschiedlichen Mustern (distal symmetrische Polyneuropathie, autonome Neuropathie, diabetische Mononeuropathie u.a.)
- Augapfel (Bulbus): Mikroangiopathisch verursachte diabetische Retinopathie und Maculopathie, Entzündungen am Ober- und Unterlid, Erhöhung des Augeninnendrucks mit Glaukom-Entwicklung, Veränderung des Glaskörpers durch Gefäßneubildungen Blutungen (mit konsekutiver Narbenbildung) und Linsentrübungen durch Einlagerung von osmotisch wirksamer Glucose
- Kardiovaskuläres System: koronare Herzerkrankung infolge makro- und mikroangiopathischer Veränderungen
- Arterielles Gefäßsystem: generalisierte Arteriosklerose mit Störungen der Makro- und Mikrozirkulation
- Diabetisches Fußsyndrom: Zusammenwirken neuropathischer und mikroangiopathischer Faktoren mit Schädigungen des arteriellen Gefäßsystems und der Skelettstruktur
- Niere: mikroangiopathisch bedingte Glomerulosklerose mit chronischer Niereninsuffizienz
Aktivitäten und Teilhabe
Prinzipiell gilt die Zielsetzung, dass das Leben von an Diabetes erkrankten Menschen sich möglichst nicht (oder wenig) nicht von denen Gesunder unterscheiden muss.
Das gilt auch für die Folgeerkrankungen, die erhebliche Beeinträchtigungen bedingen und Aktivitäten sowie Teilhabe an allen Lebensbereichen einschränken können.
Voraussetzung sind Aufklärungsmaßnahmen in Form von strukturierten Schulungsprogrammen nach standardisiertem Curriculum bei Erkrankungsbeginn und im -verlauf. Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Teilhabe durch den Einfluss fremdbestimmter Therapieentscheidungen sind zu vermeiden. Schulungsinhalte haben daher gesundheitsedukative Aspekte und das Aufzeigen von Problemlösungsstrategien zu berücksichtigen.
Soziale Auswirkungen auf die Teilhabe von Menschen mit Diabetes mellitus können beispielhaft folgende Bereiche betreffen:
- Sonderstellung und -behandlung von Kindern/Jugendlichen mit Diabetes mellitus in Familie, Schule und Freizeit
- Diskriminierung bei der Erteilung / Verlängerung einer Fahrerlaubnis
- Diskriminierung bei Bewerbungen, Beförderungen und beim Arbeitsplatzerhalt
- Psychosoziale Belastungen
- Sozio-ökonomische Belastungen
- Benachteiligung von Menschen mit Diabetes beim Versicherungsabschluss (z.B. Berufsunfähigkeitsversicherungen)
- Einschränkungen der sozialen Teilhabe durch Ängste, offensiv mit der Erkrankung umzugehen, gepaart mit Unsicherheiten im Therapiemanagement (Hypoglykämierisiko)
Kontextfaktoren
Kontextfaktoren umfassen den gesamten Lebenshintergrund einer Person im Sinne einer möglichen positiven wie negativen Einflussnahme auf die Krankheitsauswirkung bzw. die Funktionsfähigkeit des Individuums. Sie können so für eine betroffene Person einen Förderfaktor oder eine Barriere darstellen. Kontextfaktoren werden in personbezogene und Umweltfaktoren unterschieden.
Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt, in der Menschen leben und ihr Leben gestalten. Diese können unterschieden werden:
Ebene des Individuums: Diese bildet die direkte persönliche Umwelt des Menschen ab und schließt den häuslichen Bereich, Arbeitsplatz/Schule mit ein, ebenso die Ausgestaltung des persönlichen Kontakts zu Familienangehörigen, Bekannten und Fremden
Ebene der Gesellschaft: Diese inkludiert formelle und informelle soziale oder staatliche Strukturen
Personbezogene Faktoren sind wegen der mit ihnen einhergehenden großen soziokulturellen Unterschiedlichkeit in der ICF bislang nicht systematisch klassifiziert. Sie können beispielhaft das Alter, Geschlecht/Gender, die ethnische Zugehörigkeit, die Religion, den Lebensstil, Gewohnheiten (Ernährung, Bewegung, Schlafverhalten, etc.), die Schulbildung, Ausbildung und den beruflichen Bildungsweg umfassen. Dazu zählen außerdem das Bewältigungsverhalten vergangener und gegenwärtiger Erfahrungsmomente sowie die psychische und physische Resilienz.
Krankheitsbedingte Beeinträchtigungen ergeben sich vor allem durch
- den täglichen Mehraufwand der Blutzuckerselbstkontrollen bzw. des Handlings/Managements der Gewebezuckersensoren,
- die Durchführung von Insulininjektionen bzw. Anwendung der Insulinpumpentherapie,
- durch die Abstimmung körperlicher und beruflicher Aktivitäten mit der Wirkung Blutzucker-senkender Medikamente und
- einer bewussten und planvollen Ernährung, vor allem bei Insulintherapie.
Werden all diese Handlungen erfolgreich praktiziert, ergeben sich aus der Stoffwechselerkrankung Diabetes mellitus für die Mehrzahl der Typ 1- und vor allem der Typ 2-Diabetiker kaum darüberhinausgehende Beeinträchtigungen ihres privaten wie beruflichen Alltags.
Verbindung von Querschnitts- und Längsschnittverlauf
- Therapieoptionen, Therapieeskalation, Therapieadhärenz unter Berücksichtigung von Arbeits- und Sozialanamnese.
- unter Berücksichtigung der Wechselwirkung zwischen psychischer Störung und somatischen Erkrankungen sowie der Ausbildung von Begleit- und Folgeerkrankungen
Krankheitsbewältigung
- Bereits erprobte Bewältigungsstrategien aufführen, sofern erfolgt – ggf. auch im Rahmen einer Familientherapie bei frühkindlichem Erkrankungsbeginn
- Psychotherapeutische Mit- oder Vorbehandlungen
- Therapie bei (fort-) bestehenden Probleme in der Krankheitsbewältigung
- Auch bisher erfolgte Schulungen mit Therapiemodulen zur Krankheitsbewältigung sollten berücksichtigt werden
Beschwerdenvalidierung
Ziel der Beschwerdenvalidierung:
- Klärung, ob die vom Probanden berichteten Beschwerden und Funktionsstörungen tatsächlich existieren
- Bei eingeschränkter Plausibilität der Beschwerdedarstellung ist zu klären, ob die Widersprüche durch ein bewusstseinsnahes, intentional-zielgerichtetes Verhalten begründet sind oder eher durch ein krankheitsbedingtes, der willentlichen Steuerung mindestens teilweise entzogenes Verhalten erklärt werden können
- Klärung / Ausschluss von Verdeutlichung, Aggravation, Simulation, Dissimulation
Plausibilitäts- und Konsistenzprüfung
- Generelles Vorgehen
- Abgleich der in den verschiedenen Akten benannten Befunde untereinander
- Klinische Beschwerdenvalidierung
- Beobachtung des Probanden / der Probandin und seines / ihres Verhaltens
- Körperliche Untersuchung
- Einsatz klinischer Tests
- Selbstbeurteilungsskalen:
- Abgleich mit den durch den Untersuchenden erhobenen Befunden
- Kognitive Beschwerdenvalidierung
- Einsatz psychologischer Testverfahren zur Erkennung einer unzureichenden Leistungsmotivation bei vermeintlichen oder tatsächlichen kognitiven Defiziten (z.B. SRSI, BEVA, SIRS-2)
Verbindung von Funktionsstörung, Beeinträchtigung von Aktivitäten mit dem Arbeits- und Sozialleben
Für Beurteilung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben müssen die individuellen Einschränkungen mit den Anforderungen und Möglichkeiten im jeweiligen Beruf bzw. Arbeitsplatz in Kontext gesetzt werden. Folgende Punkte sollten dabei beachtet werden, meistens ergeben sich diese aus der ausführlichen Anamnese der Betroffenen.
Arbeits- und Sozialanamnese
- Schulbildung, erreichter Schulabschluss
- Ausbildung, berufliche Qualifikation
- Bisherige Tätigkeiten
- Derzeitige berufliche Tätigkeit
- Tätigkeitswechsel / Berufswechsel bei therapeutisch bedingten Komplikationen infolge des Diabetesmanagements bei z.B.
- Tätigkeit in Laboren mit Verbot der Einnahme von Zwischenmahlzeiten am Arbeitsplatz, bei Kontaminationsgefahr der Arbeitsmaterialien und gesundheitlichen Risiken
- Arbeitsrechtlichen Vorschriften zur Arbeitskleidung (z.B. Schutzanzüge, Ganzkörperschutzkleidung, etc.), die das BZ-messen bzw. Ablesen des Sensors (bedeutet unter Umständen also oftmals eine Handynutzung) oder Bedienung der Insulinpumpe erschweren bzw. unmöglich machen können
- oder beim Vorliegen von Begleit- oder Folgeerkrankungen
- Soziales Umfeld
- Entwicklung der Lebenssituation
- Partnerschaftliche / familiäre / soziale Integration
- Selbstständigkeit in der Lebensführung
- Kindererziehung
- Pflege von Angehörigen
- Finanzielle Situation
- Wohnsituation
Situation am Arbeitsplatz – letzte sozialversicherungspflichtige Tätigkeit
- Arbeitsplatzbeschreibung:
- Konkrete Beschreibung des Arbeitsplatzes, der Arbeitsinhalte, der Arbeitsatmosphäre
- Schilderung eines üblichen Tagesablaufes im Arbeitsalltag mit Berücksichtigung von Pausen- und Verweilzeiten
- Kontakthäufigkeit zu Kollegen, Kunden
- Umgang mit Konflikten: Sind die Kollegen hinsichtlich der Diabetes-Erkrankung informiert, auch für den Umgang mit Komplikationen, z. B. Unterzuckerungen, etc. geschult?
- Handlungs- / Verantwortungsspielraum auf der Arbeit
- Tätigkeitbezogene Belastungsfaktoren:
- Besondere physische und psychische Belastungen am Arbeitsplatz
- Selbsteinschätzung des beruflichen Leistungsvermögens
- Betriebliche Atmosphäre
- Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz
- Arbeitsunfähigkeitszeiten und deren Begründung
- Betriebsärztliche (auch diabetologische Mit-) Betreuung (Diabetes und Arbeitsplatz, siehe Leistungsvermögen > Berufsleben mit Diabetes mellitus Typ 1)
- Wurden bereits Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Rehabilitation, siehe Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben) absolviert oder beantragt? Umsetzung innerhalb des Betriebes?
- Fand bereits eine stufenweise Wiedereingliederung (STW) oder ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) statt oder ist dieses geplant?
- Weg zur Arbeitsstelle
Kriterien zur sozialmedizinischen Prognosebeurteilung
Das Gesetz fordert im § 10 SGB VI eine positive Rehabilitationsprognose. Die Stabilisierung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben, letztendlich die Vermeidung oder zumindest das Hinausschieben der Berentung wegen Erwerbsminderung muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erreicht werden können: "Rehabilitation vor Rente". Dies bedeutet, dass funktionelle Beeinträchtigungen, die einem rehabilitativen Behandlungsansatz gar nicht zugänglich oder so gravierend sind, dass das Rehabilitationsziel der Rentenversicherung nicht erreicht werden kann, eine Rehabilitation zu Lasten der Rentenversicherung ausschließen.
Die sozialmedizinische Prognose ergibt sich aus allen bislang gelisteten Aspekten, z.B:
- Verlauf der Erkrankung (Schweregrad, Dauer, Chronifizierung)
- Bisherige Therapien/Rehabilitationsmaßnahmen:
- Angemessenheit der Vorbehandlungen
- Wirksamkeit der Therapiemaßnahmen
- Ausschöpfung der Therapieoptionen
- Waren die Vorbehandlungen angemessen und überwiegend unwirksam spricht dies eher für eine ungünstige Prognose
- Beurteilung, ob der Einsatz von weiteren therapeutischen/rehabilitativen Maßnahmen die Leistungsfähigkeit günstig beeinflusst
- Therapieregime am Arbeitsplatz (mit Einfluss auf die Lebensqualität der Betroffenen): Ziel: offener Umgang mit Menschen mit Diabetes (auch) am Arbeitsplatz
- Krankheitsverarbeitung und Veränderungsmotivation
- Arbeitsunfähigkeitszeiten
- Verfügbarkeit von personalen und umweltbezogenen Ressourcen
- Sozialer Hintergrund
- Rentenantragsstellung
Medizinische Rehabilitation
Erfolgt unter Berücksichtigung der unter Grundlagen der sozialmedizinischen Beurteilung genannten Punkte.
Einschätzung von Rehabilitationsbedarf, Rehabilitationsfähigkeit und Rehabilitationsprognose
Wichtige Voraussetzung für diese Beurteilung ist die abgeschlossene primäre Diagnostik der Erkrankung und bereits eingeleitete dem Krankheitsstadium adäquate Therapie.
Rehabilitationsbedarf
Bei der Beurteilung des Rehabilitationsbedarfs müssen krankheitsbedingte Funktions- und / oder Fähigkeitsstörungen vorliegen, die zu Beeinträchtigungen von Aktivitäten und Teilhabe in Lebensbereichen führen. Für dessen Beurteilung müssen auch prognostische Faktoren berücksichtigt werden. Darüber hinaus muss die Primärdiagnostik abgeschlossen und die für das vorliegende Krankheitsstadium adäquate Therapie eingeleitet worden sein. Eine längere AU bei einer diabetologischen Grunderkrankung weist aufgrund unterschiedlicher Konstellationen (bspw. schwieriges Diabetesmanagement, komplizierende Begleit- oder Folgeerkrankungen, etc.) oft auf einen besonderen Rehabilitationsbedarf hin.
In der Regel liegt ein Rehabilitationsbedarf vor bei:
- Kombinationen mit Begleiterkrankungen, die eine deutlich erhöhte Gefährdung des Leistungsvermögens im Erwerbsleben bedingen, zum Beispiel beim Metabolischen Syndrom (Insulinresistenz, Hyperinsulinämie, gestörte Glukosetoleranz, Adipositas, Dyslipoproteinämie, arterielle Hypertonie)
- diabetischen Krankheitskomplikationen als Folgeerkrankungen im Sinne einer diabetischen (Poly-) Neuropathie (zum Beispiel bei autonomer Neuropathie und/oder distal symmetrischer sensomotorischer Polyneuropathie), mikrovaskulären Komplikationen wie die diabetische Retinopathie (Visusstörung) oder Nephropathie (Glomerulosklerose), makroangiopathischen Komplikationen wie die koronare Herzkrankheit, ischämische Krankheiten der hirnzuführenden Gefäße oder peripheren arteriellen Verschlusskrankheiten sowie kombinierte Angiopathie und Neuropathie (zum Beispiel beim diabetischen Fußsyndrom, ggf. mit knöchernen Veränderungen, wie z. B. Charcot-Fuß)
- psychischen oder somatischen Begleitkrankheiten, die zu einer wechselseitigen Progression der Erkrankungen und Beeinträchtigung der Therapieadhärenz führen
- Anhaltenden Therapieproblemen wie schwerer Einstellbarkeit des Diabetes mellitus (zum Beispiel schwer beeinflussbare Hyperglykämien, rezidivierend auftretende Hypoglykämien, Instabilität der Stoffwechseleinstellung bei adäquater medikamentöser Therapie) trotz verschiedener – im Einzelnen zu belegender – therapeutischer Regime oder ausgeprägter Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie / "Insulinierung" als neues Therapieregime
- modifikationsbedürftigem Coping-Stil, zum Beispiel, um einer unzureichenden Krankheitsbewältigung entgegenzuwirken oder bei Wissenstransferproblemen mit daraus resultierendem Übungs- und Schulungsbedarf. Damit trägt die Rehabilitation zur Verbesserung des Selbst-Managements im Sinne eines Empowerments bei
- besonderen beruflichen Belastungen, wenn sie zu einer Verschlechterung der Stoffwechseleinstellung oder erhöhten Gefährdung für den Betreffenden oder seine Umwelt führen. Diese sind seit Einführung flexiblerer therapeutischer Möglichkeiten weniger bedeutsam. Bei arbeitsbezogenen Problemen ist im Einzelfall die Notwendigkeit für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu prüfen (siehe Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben)
- fehlender Therapieadhärenz: der Rehabilitationsbedarf muss im Einzelfall gegenüber einer umso schnelleren Krankheitsprogression kritisch abgewogen werden
Rehabilitationsfähigkeit
Der Begriff Rehabilitationsfähigkeit bezieht sich auf die somatische und psychische Verfassung der Rehabilitand*innen. Neben einer Motivation (bei somatischen Erkrankungen) bzw. Motivierbarkeit (bei psychischen bzw. psychosomatischen Erkrankungen) muss eine ausreichende Belastbarkeit vorliegen, um selbstständig und aktiv an der Rehabilitationsleistung mitzuwirken.
Zur Beurteilung der Rehabilitationsfähigkeit hilft die Beantwortung folgender Fragen:
- Ist der/die Patient*in
- reisefähig?
- in der Lage, sich selbst zu versorgen?
- körperlich und psychisch belastbar genug, um das täglich 4 bis 6-stündige Behandlungsprogramm, bestehend aus Einzel- und Gruppentherapien zu verkraften?
- sind die Deutschkenntnisse ausreichend, um von einer strukturierten Schulung profitieren zu können?
Rehabilitationsprognose
Neben der Feststellung des Rehabilitationsbedarfs und der Rehabilitationsfähigkeit ist im Hinblick auf das Erreichen des Rehabilitationsziels positiv eingeschätzte Rehabilitationsprognose eine Voraussetzung für die Bewilligung und Durchführung einer Leistung zu Rehabilitation.
Die Rehabilitationsprognose ist eine sozialmedizinisch begründete Wahrscheinlichkeitsaussage (> als 50%) für den Erfolg der Leistung zur Teilhabe über die Erreichbarkeit der festgelegten Rehabilitationsziele. Sie wird erstellt wird auf der Basis der Erkrankung, des bisherigen Verlaufs, des Kompensationspotenzials/der Rückbildungsfähigkeit unter Beachtung und Förderung individueller Ressourcen (Rehabilitationspotenzial einschließlich psychosozialer Faktoren) durch eine geeignete Leistung zur Teilhabe in einem notwendigen Zeitraum.
Für dessen Einschätzung müssen der bisherige Krankheitsverlauf, die Rückbildungsfähigkeit der Funktionsstörungen und die individuellen Ressourcen zur Kompensation der Teilhabebeeinträchtigungen berücksichtigt werden.
Für die Beurteilung des Rehabilitationsbedarfs (ebenso für die Beurteilung der Rehabilitationsfähigkeit und -prognose) sind objektivierbare (beispielsweise HbA1c-Verlauf, vorbestehende Begleit- und diabetische Folgeerkrankungen und berufliche Problemlagen) und subjektive (zum Beispiel psychosoziale Beanspruchung durch das Diabetesmanagement im beruflichen und familiären Setting, Angst vor Folgeerkrankungen bei schlechter Stoffwechseleinstellung) Parameter zu berücksichtigen.
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) stellen den Bereich der Leistungen zur Teilhabe dar, der
- die Leistungen zur Erhaltung oder zur Erlangung eines Arbeitsplatzes,
- zur beruflichen Anpassung, Berufsvorbereitung, Fort- und Weiterbildung, Ausbildung, Qualifizierung und Umschulung sowie
- Kraftfahrzeughilfen und
- finanzielle Hilfen umfasst.
Nach medizinischer Rehabilitation können zur beruflichen Wiedereingliederungsleistung zur LTA erforderlich sein. Dies ist insbesondere der Fall, wenn positives und negatives Fassungsvermögen der Antragsteller mit den Anforderungen der letzten sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nicht vereinbar ist.
Sind weiterführende LTA erforderlich, so prüft der Leistungsträger, ob eine ausreichend stabile Belastbarkeit für qualifizierende Maßnahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung besteht. Auf den Erfolg einer Schulungsmaßnahmen der Wiedereingliederung können sich Komorbiditäten wie kognitive Beeinträchtigungen und Folgeerkrankungen limitierend auswirken. In diesen Fällen zu prüfen, ob durch eine Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder durch längerfristige Trainingsmaßnahmen das Leistungsvermögen wesentlich verbessert oder wiederhergestellt werden kann.
Voraussetzungen
- Erforderlich sind dazu eine gute Kenntnis des Arbeitsplatzes und der Tätigkeit durch die beurteilende Person und eine effiziente Zusammenarbeit aller am Integrations- oder Rehabilitationsprozess beteiligten Personen.
- Die Begutachtungskriterien müssen dabei das qualitative Leistungsvermögen des Versicherten berücksichtigen (weiterführende Ausführungen siehe dort). Es ist nicht in das Belieben des / der Beurteilenden gestellt, sich bei der Gefährdungsbeurteilung an pauschalen, undifferenzierten Diagnose- oder Berufslisten zu orientieren und danach die berufliche Eignung zu bemessen.
- Eine besondere berufliche Problemlage (BBPL) liegt bei Versicherten in Fällen längerer Arbeitsunfähigkeit (AU) vor sowie bei denen, die die Screening-Frage nach ihrer Erwartung, wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu können, verneint haben (subjektive negative Erwerbsprognose). Für diese Versichertengruppe mit BBPL hat die Rentenversicherung die Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation (MBOR) vorgesehen.
- In bestimmten Bereichen oder bei besonderen Funktionseinschränkungen ist ein Erhalt des bestehenden Arbeitsplatzes nicht möglich. Dann stehen Maßnahmen zur Weiterbildung und Qualifizierung im Mittelpunkt, die eine Umsetzung oder berufliche Neuorientierung ermöglichen können.
LTA beim Diabetes mellitus
Aufgrund der medizinischen Fortschritte moderner Therapiemöglichkeiten können Menschen mit Diabetes mellitus grundsätzlich zwischenzeitlich nahezu alle Tätigkeiten ausüben.
Folgende Einschränkungen können aber Auswirkungen auf die Umgestaltung des Arbeitsplatzes haben und Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bedingen:
- Die Gewährung einer Kraftfahrzeughilfe kann in Betracht kommen, sofern die Fahreignung nicht grundsätzlich beeinträchtigt ist und der/die Versicherte behinderungsbedingt auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs angewiesen ist, um seinen Arbeitsort zu erreichen (siehe hierzu Diabetes und Straßenverkehr). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn er/sie nicht der Lage ist, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen bzw. die erforderlichen Fußwege zwischen Wohnung und Haltestelle und / oder Haltestelle und Arbeitsplatz zurückzulegen.
- Bei Visusstörungen infolge einer diabetischen Retino- oder Maculopathie hochauflösende Bildschirmoberflächen
- Beim Verlust von Gliedmaßen infolge Minor- oder Major-Amputationen: orthopädische Schuhzurichtungen, Einlagenversorgung, Kraftfahrzeughilfen, innerbetriebliche Umsetzungen
- Bei instabiler diabetischer Stoffwechsellage Veränderungen der Arbeitsorganisation wegen der Intensivierung des Therapiemanagements oder
- Bei einer autonomen Neuropathie im Bereich des Mesenteriums mit Auswirkungen auf die Darmperistaltik: Notwendigkeit häufigerer Toilettengänge, tägliche stuhlregulierende Maßnahmen
- Bei der Unmöglichkeit der Arbeit im Stehen (z.B. Tätigkeiten am Empfang mit Repräsentationsdiensten, Reinigungskräften (oder Notwendigkeit mehrstündigen Tragens von Ganzkörperschutzanzügen, z.B. bei Labortätigkeiten oder Arbeiten im Feuerwehr-/Sanitätsdienst) müssen eventuell innerbetriebliche Umsetzungen bzw. Anpassungsqualifizierungen angestrebt werden
- Bei notwendigerweise einzuhaltenden Hygienestandards und gleichzeitig therapeutisch notwendig wiederholter und ungeplanter Eingriffe in das Blutzuckermanagement ist bei einigen Berufen (z.B. Köch*innen, Servicepersonal in der Gastronomie, Reinigungskräften, Tätigkeiten im Handwerk, in der Landwirtschaft oder bei Labortätigkeiten) möglicherweise eine berufliche Umschulung anzustreben
- Bei längerfristig und in ausgeprägter Form vorliegenden psychomentalen Einschränkungen können für bestimmte Berufe (z.B. Telefon-Callcenter-Tätigkeit, pädagogische Berufe in KiTas und Schulen) ebenfalls Maßnahmen wie innerbetriebliche Umsetzungen, Anpassungsqualifizierungen oder berufliche Umschulungen notwendig werden.
Neu im Bereich der LTA sind die ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungen (EUTB), an die sich Betroffene wenden können und die im Dialog mit den Kostenträgern die Betroffenen beraten.
Leistungsvermögen
In Deutschland sind derzeit über zwei Millionen Menschen mit Diabetes erwerbstätig. In wenigen Jahren werden bis zu drei Millionen Betroffene in verschiedensten Berufsfeldern beschäftigt sein.
Daher ergibt sich aus betriebs- und volkswirtschaftlichen Gründen das vorrangige Ziel, möglichst vielen an Diabetes erkrankten Menschen ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten oder sie wieder in betriebliche Abläufe einzugliedern. Die Konstanz und Verlässlichkeit der medikamentösen Therapie zur Vermeidung von Stoffwechselentgleisungen ist entscheidend.
Die Einschätzung der qualitativen und quantitativen Leistungsfähigkeit ist abhängig von der Umsetzung des Schulungswissens sowie der Trainingserfahrung für ein effektives Selbstmanagement. Bei der Beurteilung zu berücksichtigen sind leistungsfördernde sowie leistungshemmende persönliche wie umweltbedingte Kontextfaktoren, um die Bedeutung aktueller Therapiekomplikationen (z. B. Hypoglykämie) wie späterer Begleit- und Folgeerkrankungen berücksichtigen zu können.
Eine sozialmedizinisch relevante Minderung des Leistungsvermögens besteht in der Regel erst bei gravierenden, dann oft irreversiblen, komplexen Folgeerkrankungen und setzt voraus, dass die zumutbaren therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
- Konkrete Beschreibung der Auswirkung der Beeinträchtigung der Aktivitäten auf das Leistungsvermögen:
- Zuletzt ausgeübte Tätigkeit
- Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
- Beruf
Diabetes und Berufswahl
Diabetes ist keine meldepflichtige Erkrankung
- Sozialmedizinische Arbeitsplatzvorgaben gehören seit vielen Jahren nicht mehr zur Alltagsrealität insulinabhängiger berufstätiger Diabetiker*innen. Jeder an Diabetes mellitus erkrankte Mensch kann heute seine Insulindosis an private (Wochenende, Urlaubsreisen, Sport) wie berufliche Aktivitäten (Dienstreise, Montageeinsatz, Schichtarbeit) adaptieren, wenn er ausreichend geschult ist und das Gelernte anwendet.
- Da das individuelle Risiko von vielen Faktoren abhängt, zum Beispiel Alter, Diabetestyp, -dauer, -einstellung und assoziierten Begleiterkrankungen, ist eine prognostische Risikoeinschätzung über Jahre (bis Jahrzehnte) für einzelne Betroffene nicht möglich. Tätigkeiten, deren Ausübung dauerhaft eine hohe körperliche und/oder geistige Leistungsfähigkeit erfordern, sollten aber bei der Berufswahl kritisch hinterfragt werden.
- Nach den aktuellen Vorgaben des Arbeitsschutzgesetzes ist jeweils eine individuelle Beurteilung der Gefährdungssituation vorzunehmen. Dabei sind die Wechselwirkungen von Arbeitsplatz- und tätigkeitsspezifischen Faktoren sowie etwaige gesundheitliche Einschränkungen im Sinne einer Gefährdungsanalyse zu berücksichtigen. Problematisch sind hier die spezifisch mit der Diabeteserkrankung bzw.-Therapie einhergehenden Risiken, insbesondere die Gefahr einer Selbst- und Fremdgefährdung durch Hypoglykämien.
- Bei einer betriebsärztlichen Untersuchung gilt natürlich auch die ärztliche Schweigepflicht. Ziel der Untersuchung ist die Prüfung, ob die betreffende Person berufsfähig ist oder nicht.
Berufsleben mit Diabetes mellitus Typ 1
Die rtCGM-Technologie gilt als Game-Changer der Diabetologie. Die Gefahr von Hypoglykämien, die eine normnahe Einstellung von Menschen mit insulinpflichtigem Diabetes jahrzehntelang einschränkte, hat durch die integrierte Warnfunktion in rtCGM-Geräten und Nutzung von AID ("Automated Insulin Delivery”) -/AHCL ("Advanced Hybrid Closed Loop") -Systemen ihren Schrecken verloren. Die Nutzung dieser Technologien vereinfacht das Diabetesmanagement für die Betroffenen und erleichtert die Teilhabe, selbstverständlich auch die berufliche.
Diese bei Typ 1-Diabetikern überwiegend und bei Typ 2-Diabetikern zunehmend genutzte Technologie hat bei der künftigen Beratung zur Berufswahl hinsichtlich des Therapie-Managements zunehmend Priorität. Ob ein Diabetes-Patient im Einzelfall für einen Beruf geeignet ist, hat der/die Betriebs*ärztin anhand einer je individuellen Gefährdungsbeurteilung zu bewerten.
- Diabetiker können damit Berufe ausüben, die bisher mit inakzeptablen oder schlecht vorhersehbaren Risiken verbunden waren.
- Einem Menschen mit Diabetes Typ 1 bleiben in Deutschland aber weiter aus arbeitsmedizinisch-betriebsärztlicher und diabetologischer Perspektive wenige Berufe verwehrt.
- Eine individuelle Prüfung für Menschen mit Typ-1-Diabetes ist bei folgenden Berufen erforderlich:
- Berufe mit hoher Eigen- oder Fremdgefährdung bei Hypoglykämie wie Dachdecker, Gebäudereiniger oder Bauarbeiter
- Berufe mit der Notwendigkeit zur Personenbeförderung, insbesondere Piloten, aber auch Busfahrer
- Berufe mit verantwortlichen Überwachungsfunktionen wie Fluglotsen, Gefahrguttransportfahrer oder Polizisten
- Berufe mit Schusswaffengebrauch wie Waffenträger bei der Polizei oder Zoll
- Berufe mit Schichtdienst, wobei ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus eine gute Blutzuckereinstellung erschwert: Pflegende im Krankenhaus oder Notfallmediziner
- Tätigkeiten bei Überdruck, wie beim Tauchen
- Bei der Musterung bekommen Bewerber mit Diabetes Typ 1 von der Bundeswehr die Gesundheitsziffer 10 VI und werden ausgemustert.
Berufsleben mit Diabetes mellitus Typ 2
- Bei Erstdiagnose eines Typ-2-Diabetes befinden sich die Betroffenen oft im erwerbsfähigen Alter und fast alle können weiterhin berufstätig bleiben
- Therapien mit reiner Lebensstilumstellung und eine medikamentöse Therapie ohne Hypoglykämie-Risiko beeinflussen die Berufstätigkeit wenig
- Eine instabile Stoffwechsellage mit rezidivierenden Hypoglykämien und insulinbasierte Therapien mit Eigen- oder Fremdgefährdung können eine Versetzung oder Umschulung nach sich ziehen
- Begleit- oder Folgeerkrankungen können Hilfsmittelbedarf auslösen und ebenso einen Wechsel des Arbeitsumfelds (Versetzung oder Umschulung) nach sich ziehen
- Eine therapeutisch erforderliche Insulintherapie erfordert bei einigen Berufsgruppen mit hoher Eigen- oder Fremdgefährdung infolge Hypoglykämien besondere Schulungsmaßnahmen und Therapiekontrollen:
- Berufe mit der Notwendigkeit zur Personenbeförderung, insbesondere Piloten
- Tätigkeit mit teilweisem oder überwiegendem Arbeiten in der Höhe wie Dachdecker
- Tätigkeiten bei Überdruck wie beim Tauchen
- Waffenträger bei Polizei oder Zoll
- Bundeswehr stellt keine insulinpflichtigen Menschen mit Diabetes ein
Qualitatives Leistungsvermögen
- Bei der Mehrzahl der Patientinnen ist die Rückkehr in die bisherige berufliche Tätigkeit anzustreben, ggf. kann ein Arbeitsversuch mögliche Hindernisse am Arbeitsplatz und die Grenzen der individuellen Belastbarkeit weitergehend evaluieren. Dabei sollte sich die Beurteilung am positiven und negativen qualitativen Leistungsvermögen orientieren.
- Um den gewünschten Karriereweg einzuschlagen, soll nicht der Diabetes, sondern die Qualifikation und berufliche Fähigkeiten an erster Stelle stehen.
- Diabetes-bedingte Risiken können gering gehalten werden durch:
- Langjährige Berufserfahrung
- Vorausschauendes Handeln und gute Vorbereitung
- Gute und aktualisierte Diabetesschulung, dabei können einzelne Themen in einer Einzelschulung durch die Diabetesberaterin aufgefrischt bzw. wiederholt werden
- Genaue Beobachtung der Stoffwechselabläufe – "time in, above und below range" (TIR,TAR,TBR)- Zeiten
- Einsatz technischer Hilfsmittel (siehe dazu Diabetes und Berufswahl)
Positives Leistungsvermögen
- Beschreibt Fähigkeiten des/der Versicherten, über die er/sie verfügt im Hinblick auf zumutbare körperliche Arbeitsschwere, Arbeitshaltung, Arbeitsorganisation: mindestens eine Körperhaltung muss überwiegend möglich sein (51-90% der Arbeitszeit, siehe hierzu: REFA-Klassifikation der Arbeitsschwere: ggf. Einschränkungen körperlicher Dauer Belastbarkeit für schwere/mittelschwere Arbeiten
- Häufig wechselnde Arbeitszeiten stellen hohe Anforderungen an die Anpassung der Insulindosierung, die aber von gut geschulten Menschen mit Diabetes gut bewältigt werden können. Lang wirksame Insuline mit flexiblen Spritzzeitpunkt erleichtern den dafür geeigneten Patientinnen das Management.
- Arbeiten unter Zeitdruck oder gelegentliche Mehrarbeit, insgesamt insbesondere bei gewisser Regelmäßigkeit, kann der/die geschulte Diabetiker*in bewältigen.
Negatives Leistungsvermögen
- Fähigkeiten, die erkrankungs- oder behinderungsbedingt nicht mehr bestehen:
- Einschränkungen durch Folge- und Begleiterkrankungen (Sehstörungen, gestörter Tasten, Gangunsicherheit bei distal symmetrischer diabetischer Polyneuropathie, Hypoglykämieneigung u.a.):
- Arbeit mit Absturzgefahr/erhöhte Verletzungsgefahr (Vorsicht bei Hyperglykämieneigung, Gangunsicherheit bei distal symmetrischer Polyneuropathie), Therapie-bedingte Limitationen (z.B. Hygienestandards, etc.) mit Auswirkungen auf die Arbeitsorganisation: Einschränkung für Arbeit mit durchgehenden Arbeitsweisen/Unmöglichkeit kurzer Unterbrechungen für Insulingaben, Zwischenmahlzeiten, Glukosemanagement bei Sensor- oder Pumpenalarmen, Schichtdienst individuell prüfen
- Einschränkungen bei der Personenbeförderung und/oder Transport gefährlicher Güter (z. B. Taxifahrer, Busfahrer, Pilot, Lokführer), Überwachungsfunktionen mit alleiniger Verantwortung für das Leben anderer (Z. B. Fluglotsen, Schrankenwärter, Leitstellen von Kraftwerken), Schusswaffengebrauch (z. B. Polizist, Wachmann), Fahrtauglichkeit (beeinflusst durch Hypoglykämie, langanhaltende Hyperglykämie, starke Blutzuckerschwankungen und Folge-Erkrankungen), weitere Ausführungen dazu siehe Diabetes und Beruf, Berufsleben mit Diabetes mellituts Typ 1 und 2.
- Kontinuierliche Nachtarbeit wie bei Pförtner oder Krankenschwester ist meist kein Problem
- Akkordarbeit
Quantitatives Leistungsvermögen
- Einteilung
- sechs Stunden und mehr pro Tag
- drei bis unter sechs Stunden pro Tag
- unter drei Stunden pro Tag
Sowohl das qualitative als auch das quantitative Leistungsvermögen werden im Hinblick auf den bisherigen Beruf als auch auf den allgemeinen Arbeitsmarkt (AAM) beurteilt.
Diabetiker*innen ohne schwerwiegende Begleit-/Folgeerkrankungen und mit aktuellem Schulungswissen weisen keine sozialmedizinisch relevante Minderung des Leistungsvermögens auf. Dagegen kann das sozialmedizinische Leistungsvermögen infolge schwerwiegender Folgeerkrankungen (Major-Amputation, Blindheit, terminaler Niereninsuffizienz mit Dialyse) eingeschränkt oder aufgehoben sein und/oder Therapie-bedingt (instabile Stoffwechsellage mit rezidivierenden Hypoglykämien mit Fremdhilfe) sogar – aber meist nur vorübergehend - aufgehoben sein. Die komplexe Einzelfallentscheidung ist in jedem Fall unter ganzheitlicher Betrachtung individuell abzuwägen.
Wenn eine Minderung festgestellt wird, ist in Abhängigkeit vom Leistungsbild zu prüfen, ob LTA geeignet sind, den Versicherten wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Hierfür können beispielsweise Rehabilitationskliniken mit MBOR in Frage kommen.
Sozialmedizinische Beurteilung der Folgeerkrankungen
- Diabetische Retinopathie: Das Ausmaß der Funktionseinschränkungen orientiert sich am Visus. Dabei ist anzunehmen, dass eine Visusreduktion auf 0,4 immer noch das Lesen einer Tageszeitung ermöglicht. Bei jungen Typ 1-Diabetiker*innen ist beim Vorliegen einer proliferativer Retinopathie mit Visusverlust rechtzeitig an die Umschulung auf einen Sehschwächenberuf zu denken.
Berufe blinder und sehbehinderter Menschen können sein: Logopäd*in, Influencer*in, Büroberufe, medizinisch taktile Untersucherin in der Brustkrebsvorsorge, medizinisch-therapeutische Berufe, Museumsführer*in im Blindenmuseum, E-Commerce-Handel auf digitalen Plattformen, Berufe in der Musiktechnik, etc.
Spezielle Berufsförderungswerke (BFW) haben sich auf die berufliche Rehabilitation von sehbehinderten und blinden Menschen spezialisiert. - Diabetische Nephropathie: Für die sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit gelten die Begutachtungsleitlinien bei Nierenerkrankungen.
- Diabetischer Fuß: Ulkusgefährdete Stellen des Fußes müssen druckentlastet werden, daher sind jedwede Tätigkeiten, die mit einer Fußbelastung verbunden sind, zu vermeiden. Die Möglichkeit, druckentlastende Schuhe am Arbeitsplatz zu tragen (Diabetesschutzschuhe) sollte geprüft werden. Arbeiten, bei denen der Fuß mechanischen Belastungen (auch durch Arbeitsschutzschuhe), Nässe, Kälte oder Schmutz ausgesetzt ist sind einzuschränken. Beim Vorliegen von Ulzerationen sind Arbeiten, die mit einer erhöhten Infektionsgefahr bzw. einer Wundheilungsverzögerung einhergehen können, wie Expositionen von Kälte, Hitze, Schmutz und Feuchtigkeit, zu vermeiden.
- Slow-transit-constipation (NTC): Enterische Neuropathie als Ausdruck einer Autonomen Neuropathie (NP) mit erheblich verzögerter Kolontransitzeit. Die resultierende Notwendigkeit täglicher stuhlregulierender Maßnahmen kann erhebliche Konsequenzen für die berufliche und soziale Teilhabe der Betreffenden nach sich ziehen.
- Hypoglykämie-Neigung: Problematisch sind spezifisch mit der Diabeteserkrankung bzw. -Therapie einhergehende Risiken, insbesondere die Selbst- und Fremdgefährdung durch Hypoglykämien. Auch weniger ausgeprägte Hypoglykämien können Konzentrationsstörungen bzw. Einschränkungen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit nach sich ziehen, was nicht unerhebliche Gefährdungslagen bei der Tätigkeit an Maschinen, in Überwachungsfunktion und höchsten Präzisionsanforderungen begründen kann. Siehe hierzu Diabetes und Berufswahl.
Voraussichtliche Dauer der Leistungseinschränkung
- Prüfung, ob eine Besserung der Leistungsfähigkeit wahrscheinlich ist
- Dies ist anzunehmen, wenn aus ärztlicher Sicht bei Betrachtung des bisherigen Verlaufes nach medizinischen Erkenntnissen unter Berücksichtigung der noch vorhandenen therapeutischen Optionen eine Steigerung des qualitativen und/oder quantitativen Leistungsvermögens noch möglich ist
- Zeitliche Befristung der Renten aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit für längstens 3 Jahre nach Rentenbeginn
Diabetes und Straßenverkehr
Gut eingestellte und (unter zuverlässiger Anwendung der Lehrinhalte) geschulte Menschen mit Diabetes können Fahrzeuge beider Gruppen sicher führen. Die jeweiligen Therapieregime und Fahrzeugnutzung (beruflicher Kontext, Quantität und Distanzen, Fahrerlaubnisklassen, Fahrpraxis) sind bei der Begutachtung zu berücksichtigen. Die Gefährdung der Verkehrssicherheit geht beim Diabetes mellitus in erster Linie vom Auftreten einer Hypoglykämie mit Kontrollverlust, Verhaltensstörungen oder Bewusstseinsbeeinträchtigungen aus.
Nach dem Auftreten einer Stoffwechseldekompensation mit konsekutiver Erst- oder Neueinstellung, darf so lange kein Fahrzeug geführt werden, bis die Einstellphase mit Erreichen einer ausgeglichenen Stoffwechsellage (insbesondere bezüglich normalisierten Sehvermögens sowie Hypoglykämiewahrnehmung) nach ärztlicher Einschätzung abgeschlossen ist.
Zuordnung der Fahrerlaubnisklassen
Die Einteilung der Fahrerlaubnisklassen wird in § 6 und § 6a der jeweils gültigen Fahrerlaubnisverordnung (FeV) geregelt. Für die Zwecke der Begutachtungsleitlinien werden die Klassen entsprechend des jeweils gültigen Anhangs III der EU-Führerscheinrichtlinie und der Anlage 4 der FeV in zwei Gruppen unterteilt:
- Gruppe 1 (Führer von Fahrzeugen der Klassen A, A1, A2 (A-Krafträder) B, BE (B-Auto-Führerscheinklassen), AM, L, T (L und T Zugfahrzeuge [Traktoren])
- Gruppe 2 (Führer von Fahrzeugen der Klassen C, C1, CE, C1E (C-LKW-Führerscheinklassen) D, D1, DE, D1E (D-Bus-Führerscheinklassen) und die Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung (FzF))
Gruppe 1
Bei wiederholt auftretenden schweren Hypoglykämien im Wachzustand soll eine Fahrerlaubnis in der Regel erst drei Monate nach der letzten Episode erteilt oder erneuert werden. Eine hinreichende Stabilität der Stoffwechsellage sowie eine zuverlässige Wahrnehmung von Hypoglykämien sind sicherzustellen. Darüber hinaus sind ein ärztliches Gutachten (Facharzt mit nachgewiesener diabetologischer Qualifikation, in der Regel Facharzt für Allgemeinmedizin oder Innere Medizin) und regelmäßige ärztliche Kontrollen notwendig.
Gruppe 2
Für die positive Feststellung der Fahreignung durch die Begutachtung sind folgende Voraussetzungen zu erfüllen:
- Keine wiederholte schwere Hypoglykämie in den letzten (i.d.R.) 12 Monaten, mindestens aber 3 Monaten
- Ungestörte Hypoglykämiewahrnehmung
- Angemessene (mindestens zweimal tägliche) Überwachung der Krankheit durch regelmäßige Glukoseselbstkontrollen bzw. zu den für die Kraftfahrzeugführung relevanten Zeiten
- Kenntnisse der mit Hypoglykämien verbundenen Risiken und Krankheitseinsicht
Eine gesonderte verkehrsmedizinische Beurteilung erfordern Diabetes-bedingte Begleit- und Folgeerkrankungen und relevante Komorbiditäten, insbesondere Erkrankungen der Augen, Nieren, Nerven und Gefäße sowie bei Schlaf-Apnoe-Syndrom. Die Beurteilung des Sehvermögens bei diabetischer Retinopathie unterliegt den Beurteilungsgrundsätzen, die für diese Krankheitsgruppe vorgesehen sind.
Tabelle: Übersicht zur Gruppeneinteilung nach Diagnosen, zugehöriger Therapie und Auflagen | ||||
Diagnose |
Therapie |
Gruppe 1 |
Gruppe 2 |
Auflagen |
---|---|---|---|---|
Diabetes mellitus Typ 1 oder Typ 2 Ausgeglichene Stoffwechsellage, keine Folgekomplikationen, keine Hypoglykämie-Wahrnehmungs-störungen |
Diätetisch, Lebensstil |
Keine Einschränkung |
nach Einstellung (stabile Stoffwechselführung über 3 Monate) |
|
Medikamentöse Therapie mit niedrigem Hypoglykämierisiko |
Keine Einschränkung |
nach Einstellung (stabile Stoffwechselführung über 3 Monate) und Schulung i.d.R. keine Einschränkung |
regelmäßige ärztliche Kontrollen | |
Medikamentöse Therapie mit hohem Hypoglykämierisiko (Sulfonylharnstoffe, Insulin) |
nach Einstellung und Schulung keine Einschränkung bei ungestörter Hypoglykämiewahrnehmung. Stoffwechselselbstkontrollen empfohlen. Nachzuweisen ist (beispielsweise durch ein Attest des behandelnden Arztes), dass das Risiko einer Hypoglykämie verstanden wird und die Erkrankung angemessen unter Kontrolle ist. Bei Zweifel an der Fahreignung kann die Beibringung eines fachärztlichen Gutachtens sowie regelmäßige ärztliche Kontrollen angeordnet werden. |
nach Einstellung (stabile Stoffwechselführung über 3 Monate) und Schulung i.d.R. keine Einschränkung bei ungestörter Hypoglykämiewahrnehmun |
Fachärztliche Begutachtung alle 3 Jahre regelmäßige ärztliche Kontrollen Stoffwechselselbstkontrollen sind ggf. zu fordern | |
Nach erstmaliger Stoffwechselentgleisung oder bei neuer Einstellung |
nach Einstellung (stabile Stoffwechselführung) |
nach Einstellung (stabile Stoffwechselführung über 3 Monate) | ||
Gestörte Hypoglykämiewahrnehmung |
nicht geeignet, bis Hypoglykämiewahrnehmung wiederhergestellt |
nicht geeignet, bis Hypoglykämiewahrnehmung wiederhergestellt | ||
Mehr als eine fremdhilfebedürftige Hypoglykämie im Wachzustand in den letzten 12 Monaten |
In der Regel für die Dauer von 3 Monaten nicht geeignet, bis Stoffwechsellage stabil und Hypoglykämiewahrnehmung sichergestellt ist. Ein fachärztliches Gutachten und regelmäßige ärztliche Kontrollen sind notwendig. |
In den letzten 12 Monaten darf keine wiederholte schwere Hypoglykämie aufgetreten sein. Abhängig von der ärztlichen Begutachtung im jeweiligen Einzelfall kann jedoch unter günstigen Umständen auch eine kürzere Frist ausreichend sein; der Zeitraum bis zur Wiedererlangung der Fahreignung beträgt aber dann mindestens 3 Monate. Regelmäßige ärztliche Kontrollen. | ||
Anhaltende Hyperglykämie |
Nicht geeignet, wenn Konzentration, Reaktion und Aufmerksamkeit erheblich beeinträchtigt (ggf. fachärztliche Einzelfallbeurteilung) |
Nicht geeignet, wenn Konzentration, Reaktion und Aufmerksamkeit erheblich beeinträchtigt (ggf. fachärztliche Einzelfallbeurteilung) | ||
Spätkomplikationen, Folgeerkrankungen |
siehe entsprechende Kapitel |
siehe entsprechende Kapitel | ||
Quelle: Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Bundesanstalt für Straßenwesen, Stand: 01.06.2022, Seite 35 f, Fassung vom 17.02.2021 (Verkehrsblatt, S. 198), Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, URL: https://bast.opus.hbz-nrw.de/frontdoor/index/index/docId/2664, Heft M 115 |