Deutsche Rentenversicherung

Soziale Phobien

Krankheitsbild, Anamnese, Diagnostik, Therapie, Krankheitsverlauf und Prognose
Stand: 01.12.2023

Störungsspezifische Beschreibung

Generelle Aussagen über alle Angststörungen

  • Bei Angststörungen kommt es zu übertriebenen, unrealistischen oder auch grundlosen Reaktionen
  • Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen
  • Lebenszeitprävalenz: 14 - 29 %
  • Sie haben häufig eine hohe Komorbiditätsrate
  • Oftmals zeigt sich ein chronischer Verlauf
  • Die Spontanremissionsrate ist niedrig
  • Sie schränken die Lebensqualität erheblich ein sowohl in sozialer, beruflicher als auch gesellschaftlicher Hinsicht
  • In vielen Fällen sind Angststörungen effektiv behandelbar
  • Die Rezidivneigung trotz entsprechend durchgeführter Pharmakotherapie oder psychotherapeutischer Behandlung ist nicht unerheblich
  • Frauen erkranken deutlich häufiger als Männer; dies ist kulturübergreifend ausgeprägt
  • Die höchste 12-Monatsprävalenz liegt in der Altersgruppe von 18 - 34 Jahren. Die zweithöchste in der Altersgruppe von 35 - 49 Jahren

Krankheitsbeschreibung: Soziale Phobie F40.1 (ICD-10)

  • Betroffene haben Angst vor Situationen, in denen sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Beispiele:
    • Angst vor dem Sprechen in der Öffentlichkeit
    • Angst vor Vorgesetzten, Behördengängen
    • Angst vor Kontakt mit dem anderen Geschlecht
  • Die Befürchtung ist, sich peinlich oder ungeschickt zu verhalten und negativ bewertet zu werden
  • Die Ängste treten in sozialen Situationen auf wie z. B.:
    • Sprechen in der Öffentlichkeit
    • Begegnung von Bekannten in der Öffentlichkeit
    • Hinzukommen oder Teilnahme an kleinen Gruppen
  • Die Betroffenen haben häufig ein geringes Selbstwertgefühl

Diagnostische Kriterien ICD-10

  • Eines der beiden Symptome muss vorliegen:
    • Deutliche Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
    • Deutliche Vermeidung, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Angst besteht, sich peinlich / erniedrigend zu verhalten
  • Mindestens zwei Angstsymptome (aus: vegetative Symptome, Symptome den Thorax und das Abdomen betreffend, psychische Symptome, Allgemeinsymptome) müssen in der gefürchteten Situation mindestens einmal aufgetreten sein (s. Tabelle)
  • Es besteht eine deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten
  • Es besteht Einsicht, dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind
  • Die Symptomatik grenzt sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen ein oder auf die Gedanken an diese

 

Quelle: Eigene Darstellung nach Taschenführer zur ICD-10 -Klassifikation von Dilling, Freyberger, Deutsche Rentenversicherung Bund
Tabelle: Symptomatik bei einer sozialen Phobie

Vegetative Symptome

Symptome, die Thorax/ Abdomen betreffen

Psychische Symptome

Allgemeine Symptome

  • Palpitationen,
    Herzklopfen,
    erhöhte Herzfrequenz
  • Atembeschwerden
  • Gefühl von Schwindel,
    Unsicherheit, Schwäche, Benommenheit
  • Hitzewallungen oder
    Kälteschauer
  • Schweißausbrüche
  • Beklemmungsgefühle
  • Derealisationserleben
  • Gefühllosigkeit oder
    Kribbelgefühle
  • Fein- oder
    grobschlägiger Tremor
  • Thoraxschmerzen und
    -missempfindungen
  • Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden

 

  • Mundtrockenheit
  • Nausea oder abdominelle Missempfindungen
  • Angst zu sterben

 


 

Anamnese

Tabelle: Auflistung der störungsspezifischen Anamnese und Therapieoptionen

Störungsspezifische Anamnese

Nutzung und Ansprechen von Therapieoptionen

  • Zeitlicher Beginn der sozialen Phobie
  • Nutzung und Ansprechen von Therapieoptionen
    • Medikamentöse Behandlungen
    • Psychotherapeutische Behandlungen
    • Andere therapeutische Behandlungsoptionen
  • Häufigkeit des Auftretens
    • Episodenartig, anfallsartig, chronisch

  • Symptomfreie Intervalle / Chronifizierung

  • Auslöser / auslösende Situationen

  • Symptomatik in den jeweiligen Episoden
    (Symptomveränderung, Symptomzunahme)

 

  • Suizidalität

 

  • Psychische Komorbidität

 

  • Somatische Komorbidität

 

  • Substanzmittelmissbrauch

 

  • Ambulante und / oder stationäre Behandlungen

 

Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund

Anbei finden Sie einen Link zu einem Muster für die Anamneseerhebung. Die dort gelisteten Punkte geben Hinweise auf eine vollständige Anamnese, müssen aber nicht bei jedem Krankheitsbild einzeln aufgeführt werden.


 

Diagnostische Maßnahmen

Die körperliche Untersuchung ist auch bei psychosomatischen / psychiatrischen Erkrankungen ein wichtiger Bestandteil im Begutachtungsprozess. 

Weitere Informationen: Das ärztliche Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung, DRV-Schrift 21, S.55

Psychischer Befund

  • Ausführliche Beschreibung der individuellen Ausprägung der verschiedenen psychischen Qualitäten nach ärztlicher / psychologischer Einschätzung
  • Verwendung der Terminologie aus:
    • AMDP-System
    • ICF
    • ICD-10 (ICD -11)
  • Subjektives Krankheitserleben
  • Beschreibung der Persönlichkeitseigenschaften (Vulnerabilitätsfaktoren)

Apparative Diagnostik

Quelle: S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen, AWMF Version 2.0, Stand 2021, Registriernummer 051-028
Tabelle: Apparative Diagnostik

Laborparameter

Weitere apparative Diagnostik

  • Blutbild
  • EEG
  • Blutzucker
  • EKG: Rhythmusstreifen
  • Elektrolyte
  • Lungenfunktion
  • Schilddrüsenstatus
  • CCT, MRT

Testpsychologische Diagnostik

"Case-finding" Fragebögen (Screening-Verfahren)

  • Mini-International Neuropsychiatric Interview (MINI)
  • Patient Health Questionnaire for Depression and Anxiety (PHQ-4)

Differenzialdiagnostik

Differenzialdiagnostische Abgrenzung zu Angst und depressiver Störung, gemischt F41.2

  • Keine der beiden Störungen ist eindeutig vorherrschend
  • Keine ist für sich genommen eine eigenständige Diagnose
  • Sind die ängstlichen und depressiven Symptome so stark ausgeprägt, dass sie eine jeweilige Diagnose begründen, dann sollen beide Diagnosen gestellt werden und auf diese Diagnose F41.2 verzichtet werden

Differenzialdiagnostik soziale Phobie

  • Psychische Erkrankungen
    • Andere Angststörungen
    • Zwangsstörung
    • Somatisierungsstörung
    • Depression
    • Anpassungsstörung
    • PTBS
    • Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
    • Abhängigkeitserkrankungen
    • Entzugssyndrom
    • Psychosen

 

Quelle: S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen, AWMF Version 2.0, Stand 2021, Registriernummer 051-028
Tabelle: Differentialdiagnostik somatische Symptome oder Erkrankungen
LungenerkrankungenHerz-Kreislauf-
erkrankungen
Neurologische
Erkrankungen
Endokrine
Störungen
Weitere
Krankheitsbilder
  • Asthma bronchiale
  • Angina pectoris
  • Komplex-partielle
    Anfälle
  • Hypoglykämie
  • Periphere Vestibularisstörung
  • Chronisch-
    obstruktive
    Lungenerkrankung
  • Myokardinfarkt
  • Migräne
  • Hyperthyreose
  • Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel

 

  • Synkopen
  • Migräne accompagnée
  • Hyperkaliämie

 

 

  • Arrhythmien
  • Multiple Sklerose
  • Hypokalzämie

 

 

 

  • Tumoren
  • Akute intermittierende Porphyrie

 

 

 

 

  • Insulinom

 

 

 

 

  • Karzinoid

 

 

 

 

  • Phäochromozytom

 

Komorbidität zwischen Angststörungen (alle Formen) und anderen psychischen Störungen

  • Komorbide weitere Angststörungen
  • Depressionen
  • Somatoforme Störungen
  • Abhängigkeitserkrankungen
  • Persönlichkeitsstörungen
  • Essstörungen
  • Zwangsstörungen


 

Therapieoptionen

Generelles Behandlungsvorgehen

  • Aspekte, die bei den möglichen Behandlungsformen zu berücksichtigen sind:
    • Präferenz des Betroffenen
    • Zeitaufwand
    • Wartezeit
    • Entstehende Kosten
  • Betroffenen mit einer sozialen Phobie soll eine Psychotherapie oder Pharmakotherapie angeboten werden
  • Ist die Psychotherapie oder die Pharmakotherapie nicht ausreichend wirksam gewesen, soll jeweils die andere Therapieform den Betroffenen angeboten werden
  • Wenn eine alleinige Psychotherapie oder Pharmakotherapie nicht hinreichend wirksam ist, kann eine Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie angeboten werden

Medikamentöse Behandlung

  • Auswahl des Medikamentes: Bei der Auswahl eines Medikamentes soll unter anderem Folgendes berücksichtigt werden:
    • Alter
    • Gegenanzeigen
    • Nebenwirkungsprofil
    • Wechselwirkung
    • Warnhinweise
    • Toxizität bei Überdosierung
    • Suizidrisiko
    • Notwendige Untersuchungen im Verlauf
    • Gegebenenfalls vorherige Erfahrung des Betroffenen
    • Therapieadhärenz

  • Antidepressiva
    • Betroffenen mit einer sozialen Phobie sollen SSRI angeboten werden, z. B.:
      • Escitalopram
      • Paroxetin
      • Sertralin
    • Betroffenen mit einer sozialen Phobie soll der SNRI Venlafaxin angeboten werden
    • Wirklatenz: 2 - 6 Wochen
    • Zeigten die Medikamente aus den beiden Substanzgruppen SSRI / SNRI keine hinreichende Wirksamkeit oder wurden nicht vertragen, kann Betroffenen mit einer sozialen Phobie Moclobemid angeboten werden
    • SSRIs und SNRIs weisen eine flache Dosis-Response-Kurve auf. Dies bedeutet, dass geschätzt 75 % der Betroffenen auf eine initial-niedrige Dosis positiv reagieren. In einigen Fällen sind Dosierungen am oberen Ende des benannten Dosisbereiches notwendig

  • Benzodiazepine
    • Benzodiazepine sind in der Behandlung einer sozialen Phobie wirksam. Aufgrund der gravierenden Nebenwirkungen (Abhängigkeitsentwicklung etc.) sollen diese nicht angeboten werden. In Ausnahmefällen können Benzodiazepine unter sorgfältiger Risiko-Nutzen-Abwägung zeitlich begrenzt eingesetzt werden
       

Tabelle: Medikamentöse Behandlung bei sozialer Phobie

Substanzklasse

Medikamente

Tagesdosis

Einsatz

SSRI

Escitalopram

10 - 20 mg

Soll angeboten werden

SSRI

Paroxetin

20 - 50 mg

Soll angeboten werden

SSRI

Sertralin

50 - 150 mg

Soll angeboten werden

SNRI

Venlafaxin

75 - 225 mg

Soll angeboten werden

RIMA

Moclobemid

300 - 600 mg

Einsatz, wenn SSRI/SNRI keine Wirksamkeit zeigen oder nicht vertragen werden

Qeulle: S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen, AWMF Version 2.0, Stand 2021, Registriernummer 051-028

Dauer der medikamentösen Behandlung

  • Akutbehandlung
    • Abhängig von der Dauer der Symptomatik

  • Erhaltungstherapie
    • Nach Eintreten der Remission soll die antidepressive Pharmakotherapie über 6 - 12 Monate weiter fortgeführt werden
    • Die Dauer kann verlängert werden, wenn:
      • Es bei einem Absetzversuch zu einem Wiederauftreten der Symptomatik kommt
      • Der Krankheitsverlauf besonders ausgeprägt war
      • Die Anamnese des Betroffenen Hinweise beinhaltet, dass eine lange Behandlungsnotwendigkeit besteht
    • Die unterschiedlichen Antidepressiva sollten bei Beendigung langsam reduziert werden, um Absetzphänomenen vorzubeugen

Maßnahmen bei Nicht-Ansprechen auf Pharmakotherapie

  • Überprüfung der Diagnose
  • Adäquate Behandlungsdauer
  • Therapieadhärenz
  • Dosis im therapeutischen Bereich
  • Serumspiegelbestimmung
  • Metabolisierungsbesonderheiten / Genotypisierung
  • Wechsel zu oder zur Kombination mit einer Psychotherapie
  • Wechsel des Medikamentes:
    • Allgemeine Empfehlung: Nach Behandlungsdauer von 4 - 6 Wochen in adäquater Dosis ohne Response sollte ein Medikamentenwechsel erfolgen
    • Zeigt sich allerdings nach 4 - 6 Wochen eine partielle Besserung, dann besteht eine Chance, dass es in weiteren 4 - 6 Wochen zu einer weiteren Verbesserung kommt. Deshalb sollte die Therapie zunächst fortgesetzt werden

Maßnahmen bei Nichtansprechen auf Psycho- oder Pharmakotherapie

  • Zeigt sich, dass eine Psychotherapie oder Pharmakotherapie nicht ausreichend wirksam ist, soll die jeweils andere Therapieform angeboten werden
  • Oder es soll eine Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie angeboten werden
  • Zeigt sich medikamentös nur eine geringfügige Wirkung, sollte die Dosierung entsprechend angepasst werden und gegebenenfalls die Therapieadhärenz geprüft werden, bevor zu einem anderen Medikament gewechselt wird

Therapie bei komorbiden psychischen Störungen

  • Die Therapieform soll so ausgewählt werden, dass die komorbide Erkrankung gleichzeitig mitbehandelt werden kann
  • Bei komorbider Depression soll eine leitliniengerechte antidepressive Therapie erfolgen
  • Häufige psychische Komorbidität:
    • Weitere Angststörungen
    • Depressionen
    • Somatoforme Störungen
    • Abhängigkeitserkrankungen
    • Persönlichkeitsstörungen

Kombinationsbehandlung

  • Laut der S3-Leitlinie liegen nur wenige Studien vor
  • Es kann eine Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie angeboten werden

Psychotherapeutische Behandlung und weitere Verfahren

Verhaltenstherapie

  • Die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) soll Betroffenen mit einer sozialen Phobie angeboten werden
  • Die KVT soll sich an empirisch fundierten Manualen orientieren
  • Die Therapiedauer richtet sich nach Krankheitsschwere, Komorbidität, psychosozialen Rahmenbedingungen
  • Die KVT beinhaltet:
    • Psychoedukation
    • Kognitive Umstrukturierung
    • Training sozialer Kompetenz
    • Exposition

Psychodynamische Verfahren

  • Psychodynamische Verfahren sollten angeboten werden, wenn eine KVT:
    • sich nicht als wirksam gezeigt hat.
    • nicht verfügbar ist.
    • vom Betroffenen präferiert wird.
  • Die psychodynamische Psychotherapie soll sich an empirisch fundierten Manualen orientieren.
  • Die Therapiedauer richtet sich nach Krankheitsschwere, Komorbidität, psychosozialen Rahmenbedingungen.

Systemische Therapie

  • Die Systemische Therapie kann bei sozialer Phobie angeboten werden, wenn:
    • Sich eine KVT oder psychodynamische Psychotherapie als nicht wirksam erwiesen hat
    • Diese nicht verfügbar sind
    • Oder diesbezüglich der informierte Betroffene eine Präferenz hat

Internet-Intervention

  • Gegebenenfalls kann zur Überbrückung bis zum Therapiebeginn oder zur Begleitung der Behandlung eine Internet-Intervention als Anleitung zur Selbsthilfe angeboten werden; sie soll nicht die alleinige Behandlungsmaßnahme darstellen

 
 

Krankheitsverlauf und Prognose

  • Angststörungen, zu denen die soziale Phobie gehört, haben oft einen chronischen Verlauf.
  • Die soziale Phobie hat eher einen durchgehenden Verlauf.
  • Ab der 5. Lebensdekade nimmt die Anzahl von Angststörungen deutlich ab.

Einfluss von Komorbidität psychischer Störungen auf den Verlauf

  • Komorbide psychische Störungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, verschlechtern die Ergebnisse der Behandlung

Einfluss von Komorbidität körperlicher Erkrankungen

  • Angsterkrankungen sind überzufällig häufig mit folgenden körperlichen Störungen assoziiert:
    • Schilddrüsenerkrankungen
    • Atemwegserkrankungen
    • Arthritis
    • Migräne
    • Allergieerkrankungen
  • Betroffene mit Angststörungen, die zusätzlich eine schwere körperliche Erkrankung entwickeln, haben ein verstärktes Krankheitserleben:
    • Verstärktes subjektives Leiden
    • Geringeres Copingvermögen
    • Verminderte Lebensqualität
    • Stärkere psychosoziale Einschränkungen