Deutsche Rentenversicherung

Generalisierte Angsterkrankung

Krankheitsbild, Anamnese, Diagnostik, Therapie, Krankheitsverlauf und Prognose
Stand: 13.06.2024

Störungsspezifische Beschreibung

Generelle Aussagen über alle Angststörungen

  • Bei Angststörungen kommt es zu übertriebenen, unrealistischen oder auch grundlosen ängstlichen Reaktionen
  • Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen
  • Lebenszeitprävalenz: zwischen 14-29 %
  • Sie haben häufig eine hohe Komorbiditätsrate
  • Oftmals zeigt sich ein chronischer Verlauf
  • Die Spontanremissionsrate ist niedrig
  • Sie können die Lebensqualität erheblich einschränken sowohl in sozialer, beruflicher als auch gesellschaftlicher Hinsicht
  • Überwiegend sind Angststörungen effektiv behandelbar
  • Die Rezidivneigung trotz entsprechend durchgeführter Pharmakotherapie oder psychotherapeutischer Behandlung ist nicht unerheblich
  • Frauen erkranken deutlich häufiger als Männer; dies ist kulturübergreifend ausgeprägt
  • Die höchste 12-Monats-Prävalenz liegt in der Altersgruppe von 18-34 Jahren. Die zweithöchste in der Altersgruppe von 35-49 Jahren

Krankheitsbeschreibung: Generalisierte Angsterkrankung F 41.1 (ICD-10)

  • Die Betroffenen leiden unter einer generalisierten und anhaltenden Angst
  • Die Angst ist nicht auf bestimmte Umgebungssituationen eingegrenzt, sondern "frei flottierend, freischwebend", und tritt nicht attackenartig auf
  • Es bestehen multiple unrealistische oder übertriebene Sorgen, die sich auf verschiedene Aspekte des täglichen Lebens konzentrieren (z. B. Familie, Gesundheit, Finanzen, Schule, Beruf)
  • Symptome, unter denen die Betroffenen leiden:

Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund
Tabelle: Symptome bei einer generalisierten Angsterkrankung
Körperliche Ausdrucksform der AngstWeitere Symptome
  • Zittern
  • Konzentrationsstörungen
  • Herzrasen
  • Nervosität
  • Schwindel
  • Schlafstörungen / Albträume
  • Übelkeit
  • andere psychische Symptome
  • Muskelverspannungen

 

  • Die Symptome treten in wechselnder Kombination als Dauerzustand auf

  • In der Regel kann nicht angegeben werden, wovor die eigentliche Angst besteht

    • Im Weiteren machen sich die Betroffenen meist Sorgen über ihre permanente Besorgtheit ("Meta-Sorgen")

Diagnostische Kriterien ICD-10

  • Die Symptomatik besteht über mindestens 6 Monate mit vorherrschender Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen in Bezug auf den Alltag
  • Mindestens 4 Symptome (aus: vegetative Symptome, Symptome den Thorax und das Abdomen betreffend, psychische Symptome, Allgemeinsymptome, Symptome der Anspannung, unspezifische Symptome) müssen vorliegen:

Quelle: ICD-10 Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, Hrsg.: Dilling & Freyberger, 8. überarbeitete Auflage, 2016

Tabelle: Symptomatik bei einer generalisierten Angststörung

Vegetative Symptome

Symptome, die Thorax/ Abdomen betreffen

Psychische Symptome

Palpitationen,
Herzklopfen,
erhöhte Herzfrequenz

Atembeschwerden

 

Gefühl von Schwindel,
Unsicherheit, Schwäche, Benommenheit

Schweißausbrüche

Beklemmungsgefühle

Derealisationserleben

Fein- oder
grobschlägiger Tremor

Thoraxschmerzen und
-missempfindungen

Angst vor Kontrollverlust

Mundtrockenheit

Nausea oder abdominelle Missempfindungen

Angst zu sterben

Allgemeine Symptome

Symptome der Anspannung

Unspezifische Symptome

Hitzewallungen oder
Kälteschauer

Muskelverspannung

Übertriebene Reaktionen auf kleine Überraschungen / erschreckt werden

Gefühllosigkeit oder
Kribbelgefühle

Akute und chronische Schmerzen

Konzentrationsschwierigkeiten

 

Ruhelosigkeit

Leeregefühl im Kopf wegen Sorgen oder Angst

 

Unfähigkeit zu entspannen

anhaltende Reizbarkeit

 

Gefühl von Aufgedreht sein, Nervosität, psychischer Anspannung

Einschlafstörungen aufgrund von Besorgnissen

 

Kloßgefühl im Hals

 

 

Schluckbeschwerden

 

Krankheitsbeschreibung nach ICD-11 Generalisierte Angststörung 6B00 (Entwurfsfassung BfArM)

  • Sie ist gekennzeichnet durch ausgeprägte Angstsymptome
  • Häufigkeit: Mindestens über mehrere Monate an mehr als einem Tag auftretend
  • Entweder bestehend aus allgemeiner Besorgnis (freischwebende Angst)
  • oder bestehend in übermäßiger Besorgnis, die sich auf alltägliche Ereignisse konzentriert (unter anderem Familie, Gesundheit, Finanzen, Schule oder Beruf)
  • zusätzliche Symptome:
    •  Muskelverspannung
    • motorische Unruhe
    • sympathische autonome Überaktivität
    • subjektives Erleben von Nervosität
    • Schwierigkeiten in der Konzentration
    • Reizbarkeit


 

Anamnese

Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund
Tabelle: Auflistung der störungsspezifischen Anamnese und Therapieoptionen

Störungsspezifische Anamnese

Ambulante und / oder stationäre Behandlungen

  • Zeitlicher Beginn der generalisierten Angststörung
  • Nutzung und Ansprechen von Therapieoptionen
    • Psychotherapeutische Behandlungen
    • Medikamentöse Behandlungen
    • Weitere therapeutische Behandlungsoptionen
  • Häufigkeit des Auftretens
    • Anfallsartig, episodisch, chronische Entwicklung

  • Symptomfreie Intervalle / Chronifizierung

  • Gegebenenfalls Auslöser / auslösende Situationen

 

  • Symptomatik in den jeweiligen Episoden
    (Symptomveränderung, Symptomzunahme)

 

  • Suizidalität

 

  • Psychische Komorbidität

 

  • Somatische Komorbidität

 

  • Substanzmittelmissbrauch

 

Anbei finden Sie einen Link zu einem Muster für die Anamneseerhebung. Die dort gelisteten Punkte geben Hinweise auf eine vollständige Anamnese, müssen aber nicht bei jedem Krankheitsbild einzeln aufgeführt werden.

 
 

Diagnostische Maßnahmen

  • Die körperliche Untersuchung ist auch bei psychosomatischen / psychiatrischen Erkrankungen ein wichtiger Bestandteil im Begutachtungsprozess.
  • Weitere Informationen: Das ärztliche Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung, DRV-Schrift 21, S.55

Psychischer Befund

  • Ausführliche Beschreibung der individuellen Ausprägung der verschiedenen psychischen Qualitäten nach ärztlicher / psychologischer Einschätzung
  • Verwendung der Terminologie aus:
    • AMDP-System
    • ICF
    • ICD-10 (ICD -11)
  • Subjektives Krankheitserleben
  • Beschreibung der Persönlichkeitseigenschaften (Vulnerabilitätsfaktoren)

Apparative Diagnostik

Quelle: S3-Leitlinie "Behandlung von Angststörungen", Version 2, Überarbeitung 04/2021, Registrier-Nummer 051-028

Tabelle: Möglichkeiten der apparativen Diagnostik

Laborparameter

Weitere apparative Diagnostik

Blutbild

EKG: Rhythmusstreifen

Blutzucker

Ggf. EEG

Elektrolyte

Ggf. Lungenfunktion

Schilddrüsenstatus

Ggf. CCT, MRT

Testpsychologische Diagnostik

"Case-finding" Fragebögen (Screening-Verfahren)

  • Mini-International Neuropsychiatric Interview (MINI)
  • Patient Health Questionnaire for Depression and Anxiety (PHQ-4)
  • Generalized Anxiety Disorder Scale-7 (GAD-7)
  • Penn State Worry Questionnaire (PSWQ)

Differenzialdiagnostik

Psychische Erkrankungen

  • Andere Angststörungen
  • Zwangsstörung
  • Somatisierungsstörung
  • Depression
  • Anpassungsstörung
  • PTBS
  • Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
  • Abhängigkeitserkrankungen
  • Entzugssyndrom
  • Psychosen

Quelle: S3-Leitlinie "Behandlung von Angststörungen", Version 2, Überarbeitung 04/2021, Registrier-Nummer 051-028
Tabelle: Differentialdiagnostik somatische Symptome oder Erkrankungen

Lungenerkrankungen

Herz-Kreislauferkrankungen

Neurologische
Erkrankungen

Endokrine
Störungen

Weitere
Krankheitsbilder

  • Asthma bronchiale
  • Angina pectoris
  • Komplex-partielle
    Anfälle
  • Hypoglykämie
  • Periphere Vestibularistörung
  • Chronisch-
    obstruktive
    Lungenerkrankung
  • Myokardinfarkt
  • Migräne
  • Hyperthyreose
  • Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel

 

  • Synkopen
  • Migräne accompagnée
  • Hyperkaliämie

 

 

  • Arrhythmien
  • Multiple Sklerose
  • Hypokalzämie

 

 

 

  • Tumoren
  • Akute intermittierende Porphyrie

 

 

 

 

  • Insulinom

 

 

 

 

  • Karzinoid

 

 

 

 

  • Phäochromozytom

 

Komorbidität zwischen Angststörungen (alle Formen) und anderen psychischen Störungen

  • Komorbide weitere Angststörungen
  • Depressionen
  • Somatoforme Störungen
  • Abhängigkeitserkrankungen
  • Persönlichkeitsstörungen
  • Essstörungen
  • Zwangsstörungen


Therapieoptionen

Überblick Therapiemaßnahmen

  • Betroffenen mit einer generalisierten Angststörung soll eine Psychotherapie oder Pharmakotherapie angeboten werden
  • Ist die Psychotherapie oder die Pharmakotherapie nicht ausreichend wirksam, sollte jeweils die andere Therapieform den Betroffenen angeboten werden
  • Wenn eine alleinige Psychotherapie oder Pharmakotherapie nicht hinreichend wirksam ist, kann eine Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie angeboten werden
  • S3-Leitlinie: Behandlung von Angststörungen (Version 2)

Medikamentöse Behandlung

Quelle: S3-Leitlinie "Behandlung von Angststörungen", Version 2, Überarbeitung 04/2021, Registrier-Nummer 051-028
Tabelle: Überblick über medikamentöse Behandlung der generalisierten Angststörung

Substanzklasse

Medikamente

Tagesdosis

Einsatz

SSRI

Escitalopram

10 - 20 mg

Soll angeboten werden

SSRI

Paroxetin

20 - 50 mg

Soll angeboten werden

SNRI

Duloxetin

60 - 120 mg

Soll angeboten werden

SNRI

Venlafaxin

75 - 225 mg

Soll angeboten werden

Kalzium-Kanal-
Modulator

Pregabalin

150-600 mg

Sollte gegebenenfalls angeboten werden; geringerer Empfehlungsgrad

Trizyklisches
Anxiolytikum

Opipramol

50 - 300 mg

Einsatz, wenn SSRI / SNRI / Pregabalin unwirksam waren/nicht vertragen wurden

Azapiron

Buspiron

15 - 60 mg

Einsatz, wenn SSRI / SNRI / Pregabalin unwirksam waren/nicht vertragen wurden

  • Benzodiazepine
    • Benzodiazepine sollten nur in begründeten Ausnahmefällen eingesetzt werden. Die Anwendung ist in der Regel auf wenige Wochen begrenzt. Nach längerer Behandlung sollten diese sehr langsam über mehrere Wochen schrittweise abgesetzt werden, um Entzugsphänomene zu vermeiden

Dauer der medikamentösen Behandlung

  • Akutbehandlung
    • Abhängig von der Dauer der Symptomatik

  • Erhaltungstherapie
    • Nach Eintreten der Remission soll die antidepressive Pharmakotherapie über 6 - 12 Monate weiter fortgeführt werden.
    • Die Dauer kann verlängert werden, wenn
      • es bei einem Absetzversuch zu einem Wiederauftreten der Symptomatik kommt.
      • der Krankheitsverlauf besonders ausgeprägt war.
      • die Anamnese des Betroffenen Hinweise beinhaltet, dass eine lange Behandlungsnotwendigkeit besteht.
    • Die unterschiedlichen Antidepressiva sollten bei Beendigung langsam reduziert werden, um Absetzphänomenen vorzubeugen.

Maßnahmen bei Nicht-Ansprechen auf Pharmakotherapie

  • Überprüfung der Diagnose
  • Adäquate Behandlungsdauer
  • Therapieadhärenz
  • Dosis im therapeutischen Bereich
  • Serumspiegelbestimmung
  • Metabolisierungsbesonderheiten / Genotypisierung
  • Wechsel zu oder zur Kombination mit einer Psychotherapie
  • Wechsel des Medikamentes:
    • Allgemeine Empfehlung: Nach Behandlungsdauer von 4 - 6 Wochen in adäquater Dosis ohne Response sollte ein Medikamentenwechsel erfolgen
    • Zeigt sich allerdings nach 4 - 6 Wochen eine partielle Besserung, dann besteht eine Chance, dass es in weiteren 4 - 6 Wochen zu einer weiteren Verbesserung kommt. Deshalb sollte die Therapie zunächst fortgesetzt werden

Maßnahmen bei Nichtansprechen auf Psycho- oder Pharmakotherapie

  • Zeigt sich, dass eine Psychotherapie oder Pharmakotherapie nicht ausreichend wirksam ist, soll die jeweils andere Therapieform angeboten werden
  • Zeigt sich medikamentös nur eine geringfügige Wirkung, sollte die Dosierung entsprechend angepasst werden und gegebenenfalls die Therapieadhärenz geprüft werden, bevor zu einem anderen Medikament gewechselt wird

Kombinationsbehandlung

  • Aufgrund der derzeitigen Studienlage war im Rahmen der S3-Leitlinie keine Aussage möglich, ob eine Kombination von Psychotherapie und Psychopharmakobehandlung wirksamer ist als die jeweilige Monotherapie
  • Es kann eine Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie angeboten werden

Psychotherapeutische Behandlung und weitere Verfahren

Tabelle: Nicht-medikamentöse Behandlungsoptionen bei generalisierter Angststörung
VerhaltenstherapiePsychodynamische VerfahrenInternet-Intervention
  • Betroffenen mit einer generalisierten Angststörung soll eine kognitive Verhaltenstherapie (KVT) angeboten werden:
    • Evidenzbasierte Aussagen zur notwendigen Therapiedauer gibt es derzeit nicht
  • Psychodynamische Verfahren sollten angeboten werden, wenn eine KVT sich:
    • Nicht als wirksam gezeigt hat
    • Nicht verfügbar ist oder
    • wenn der informierte Betroffene diesbezüglich eine Präferenz hat
  • Gegebenenfalls kann zur Überbrückung bis zum Therapiebeginn oder zur Begleitung der Behandlung eine Internet-Intervention als Anleitung zur Selbsthilfe angeboten werden; sie soll nicht die alleinige Behandlungsmaßnahme darstellen
  • Die KVT soll sich an empirisch fundierten Manualen orientieren
  • Die psychodynamische Psychotherapie soll sich an empirisch fundierten Manualen orientieren
  • Über die Dauer der Therapie kann angesichts der jetzigen Studienlage keine evidenzbasierte Aussage gemacht werden
Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund

Therapie bei komorbiden psychischen Störungen

  • Die Therapieform soll so ausgewählt werden, dass die komorbide Erkrankung gleichzeitig mitbehandelt werden kann
  • Bei komorbider Depression soll eine leitliniengerechte antidepressive Therapie erfolgen
  • Häufige psychische Komorbidität:
    • Abhängigkeitserkrankung
    • Persönlichkeitsstörung
    • Depressionen
    • Weitere Angststörungen

 
 

Krankheitsverlauf und Prognose

  • Angsstörungen, zu denen auch die generalisierte Angststörung gehört, haben oft einen chronischen Verlauf.
  • Bei der generalisierten Angststörung kommt es häufiger zu einem phasenhaften Verlauf.
  • Ab der 5. Lebensdekade nimmt die Anzahl von Angststörungen deutlich ab.

Einfluss von Komorbidität psychischer Störungen auf den Verlauf

  • Komorbide psychische Störungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, verschlechtern die Ergebnisse der Behandlung

Einfluss von Komorbidität körperlicher Erkrankungen

  • Angsterkrankungen sind überzufällig häufig mit folgenden körperlichen Störungen assoziiert:
    • Schilddrüsenerkrankungen
    • Atemwegserkrankungen
    • Arthritis
    • Migräne
    • Allergieerkrankungen
    • Schmerzsyndrome

  • Betroffene mit Angststörungen, die zusätzlich eine schwere körperliche Erkrankung entwickeln, haben ein verstärktes Krankheitserleben:
    • Verstärktes subjektives Leiden
    • Geringeres Copingvermögen
    • Verminderte Lebensqualität
    • Stärkere psychosoziale Einschränkunge