Störungsspezifische Beschreibung
Generelle Aussagen über alle Angststörungen
- Bei Angststörungen kommt es zu übertriebenen, unrealistischen oder auch grundlosen ängstlichen Reaktionen
- Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen
- Lebenszeitprävalenz: zwischen 14-29 %
- Sie haben häufig eine hohe Komorbiditätsrate
- Oftmals zeigt sich ein chronischer Verlauf
- Die Spontanremissionsrate ist niedrig
- Sie können die Lebensqualität erheblich einschränken sowohl in sozialer, beruflicher als auch gesellschaftlicher Hinsicht
- Überwiegend sind Angststörungen effektiv behandelbar
- Die Rezidivneigung trotz entsprechend durchgeführter Pharmakotherapie oder psychotherapeutischer Behandlung ist nicht unerheblich
- Frauen erkranken deutlich häufiger als Männer; dies ist kulturübergreifend ausgeprägt
- Die höchste 12-Monats-Prävalenz liegt in der Altersgruppe von 18-34 Jahren. Die zweithöchste in der Altersgruppe von 35-49 Jahren
Krankheitsbeschreibung: Generalisierte Angsterkrankung F 41.1 (ICD-10)
- Die Betroffenen leiden unter einer generalisierten und anhaltenden Angst
- Die Angst ist nicht auf bestimmte Umgebungssituationen eingegrenzt, sondern "frei flottierend, freischwebend", und tritt nicht attackenartig auf
- Es bestehen multiple unrealistische oder übertriebene Sorgen, die sich auf verschiedene Aspekte des täglichen Lebens konzentrieren (z. B. Familie, Gesundheit, Finanzen, Schule, Beruf)
- Symptome, unter denen die Betroffenen leiden:
Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund | |
Tabelle: Symptome bei einer generalisierten Angsterkrankung | |
Körperliche Ausdrucksform der Angst | Weitere Symptome |
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Die Symptome treten in wechselnder Kombination als Dauerzustand auf
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In der Regel kann nicht angegeben werden, wovor die eigentliche Angst besteht
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Im Weiteren machen sich die Betroffenen meist Sorgen über ihre permanente Besorgtheit ("Meta-Sorgen")
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Diagnostische Kriterien ICD-10
- Die Symptomatik besteht über mindestens 6 Monate mit vorherrschender Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen in Bezug auf den Alltag
- Mindestens 4 Symptome (aus: vegetative Symptome, Symptome den Thorax und das Abdomen betreffend, psychische Symptome, Allgemeinsymptome, Symptome der Anspannung, unspezifische Symptome) müssen vorliegen:
Quelle: ICD-10 Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, Hrsg.: Dilling & Freyberger, 8. überarbeitete Auflage, 2016 | ||
Tabelle: Symptomatik bei einer generalisierten Angststörung | ||
Vegetative Symptome |
Symptome, die Thorax/ Abdomen betreffen |
Psychische Symptome |
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Palpitationen, |
Atembeschwerden
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Gefühl von Schwindel, |
Schweißausbrüche |
Beklemmungsgefühle |
Derealisationserleben |
Fein- oder |
Thoraxschmerzen und |
Angst vor Kontrollverlust |
Mundtrockenheit |
Nausea oder abdominelle Missempfindungen |
Angst zu sterben |
Allgemeine Symptome |
Symptome der Anspannung |
Unspezifische Symptome |
Hitzewallungen oder |
Muskelverspannung |
Übertriebene Reaktionen auf kleine Überraschungen / erschreckt werden |
Gefühllosigkeit oder |
Akute und chronische Schmerzen |
Konzentrationsschwierigkeiten |
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Ruhelosigkeit |
Leeregefühl im Kopf wegen Sorgen oder Angst |
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Unfähigkeit zu entspannen |
anhaltende Reizbarkeit |
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Gefühl von Aufgedreht sein, Nervosität, psychischer Anspannung |
Einschlafstörungen aufgrund von Besorgnissen |
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Kloßgefühl im Hals |
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Schluckbeschwerden |
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Krankheitsbeschreibung nach ICD-11 Generalisierte Angststörung 6B00 (Entwurfsfassung BfArM)
- Sie ist gekennzeichnet durch ausgeprägte Angstsymptome
- Häufigkeit: Mindestens über mehrere Monate an mehr als einem Tag auftretend
- Entweder bestehend aus allgemeiner Besorgnis (freischwebende Angst)
- oder bestehend in übermäßiger Besorgnis, die sich auf alltägliche Ereignisse konzentriert (unter anderem Familie, Gesundheit, Finanzen, Schule oder Beruf)
- zusätzliche Symptome:
- Muskelverspannung
- motorische Unruhe
- sympathische autonome Überaktivität
- subjektives Erleben von Nervosität
- Schwierigkeiten in der Konzentration
- Reizbarkeit
Anamnese
Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund | |
Tabelle: Auflistung der störungsspezifischen Anamnese und Therapieoptionen | |
Störungsspezifische Anamnese |
Ambulante und / oder stationäre Behandlungen |
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Anbei finden Sie einen Link zu einem Muster für die Anamneseerhebung. Die dort gelisteten Punkte geben Hinweise auf eine vollständige Anamnese, müssen aber nicht bei jedem Krankheitsbild einzeln aufgeführt werden.
Diagnostische Maßnahmen
- Die körperliche Untersuchung ist auch bei psychosomatischen / psychiatrischen Erkrankungen ein wichtiger Bestandteil im Begutachtungsprozess.
- Weitere Informationen: Das ärztliche Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung, DRV-Schrift 21, S.55
Psychischer Befund
- Ausführliche Beschreibung der individuellen Ausprägung der verschiedenen psychischen Qualitäten nach ärztlicher / psychologischer Einschätzung
- Verwendung der Terminologie aus:
- AMDP-System
- ICF
- ICD-10 (ICD -11)
- Subjektives Krankheitserleben
- Beschreibung der Persönlichkeitseigenschaften (Vulnerabilitätsfaktoren)
Apparative Diagnostik
Quelle: S3-Leitlinie "Behandlung von Angststörungen", Version 2, Überarbeitung 04/2021, Registrier-Nummer 051-028 | |
Tabelle: Möglichkeiten der apparativen Diagnostik | |
Laborparameter |
Weitere apparative Diagnostik |
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Blutbild |
EKG: Rhythmusstreifen |
Blutzucker |
Ggf. EEG |
Elektrolyte |
Ggf. Lungenfunktion |
Schilddrüsenstatus |
Ggf. CCT, MRT |
Testpsychologische Diagnostik
"Case-finding" Fragebögen (Screening-Verfahren)
- Mini-International Neuropsychiatric Interview (MINI)
- Patient Health Questionnaire for Depression and Anxiety (PHQ-4)
- Generalized Anxiety Disorder Scale-7 (GAD-7)
- Penn State Worry Questionnaire (PSWQ)
Differenzialdiagnostik
Psychische Erkrankungen
- Andere Angststörungen
- Zwangsstörung
- Somatisierungsstörung
- Depression
- Anpassungsstörung
- PTBS
- Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
- Abhängigkeitserkrankungen
- Entzugssyndrom
- Psychosen
Quelle: S3-Leitlinie "Behandlung von Angststörungen", Version 2, Überarbeitung 04/2021, Registrier-Nummer 051-028 | ||||
Tabelle: Differentialdiagnostik somatische Symptome oder Erkrankungen | ||||
Lungenerkrankungen |
Herz-Kreislauferkrankungen |
Neurologische |
Endokrine |
Weitere |
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Komorbidität zwischen Angststörungen (alle Formen) und anderen psychischen Störungen
- Komorbide weitere Angststörungen
- Depressionen
- Somatoforme Störungen
- Abhängigkeitserkrankungen
- Persönlichkeitsstörungen
- Essstörungen
- Zwangsstörungen
Therapieoptionen
Überblick Therapiemaßnahmen
- Betroffenen mit einer generalisierten Angststörung soll eine Psychotherapie oder Pharmakotherapie angeboten werden
- Ist die Psychotherapie oder die Pharmakotherapie nicht ausreichend wirksam, sollte jeweils die andere Therapieform den Betroffenen angeboten werden
- Wenn eine alleinige Psychotherapie oder Pharmakotherapie nicht hinreichend wirksam ist, kann eine Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie angeboten werden
- S3-Leitlinie: Behandlung von Angststörungen (Version 2)
Medikamentöse Behandlung
Quelle: S3-Leitlinie "Behandlung von Angststörungen", Version 2, Überarbeitung 04/2021, Registrier-Nummer 051-028 | |||
Tabelle: Überblick über medikamentöse Behandlung der generalisierten Angststörung | |||
Substanzklasse |
Medikamente |
Tagesdosis |
Einsatz |
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SSRI |
Escitalopram |
10 - 20 mg |
Soll angeboten werden |
SSRI |
Paroxetin |
20 - 50 mg |
Soll angeboten werden |
SNRI |
Duloxetin |
60 - 120 mg |
Soll angeboten werden |
SNRI |
Venlafaxin |
75 - 225 mg |
Soll angeboten werden |
Kalzium-Kanal- |
Pregabalin |
150-600 mg |
Sollte gegebenenfalls angeboten werden; geringerer Empfehlungsgrad |
Trizyklisches |
Opipramol |
50 - 300 mg |
Einsatz, wenn SSRI / SNRI / Pregabalin unwirksam waren/nicht vertragen wurden |
Azapiron |
Buspiron |
15 - 60 mg |
Einsatz, wenn SSRI / SNRI / Pregabalin unwirksam waren/nicht vertragen wurden |
- Benzodiazepine
- Benzodiazepine sollten nur in begründeten Ausnahmefällen eingesetzt werden. Die Anwendung ist in der Regel auf wenige Wochen begrenzt. Nach längerer Behandlung sollten diese sehr langsam über mehrere Wochen schrittweise abgesetzt werden, um Entzugsphänomene zu vermeiden
Dauer der medikamentösen Behandlung
- Akutbehandlung
- Abhängig von der Dauer der Symptomatik
- Abhängig von der Dauer der Symptomatik
- Erhaltungstherapie
- Nach Eintreten der Remission soll die antidepressive Pharmakotherapie über 6 - 12 Monate weiter fortgeführt werden.
- Die Dauer kann verlängert werden, wenn
- es bei einem Absetzversuch zu einem Wiederauftreten der Symptomatik kommt.
- der Krankheitsverlauf besonders ausgeprägt war.
- die Anamnese des Betroffenen Hinweise beinhaltet, dass eine lange Behandlungsnotwendigkeit besteht.
- Die unterschiedlichen Antidepressiva sollten bei Beendigung langsam reduziert werden, um Absetzphänomenen vorzubeugen.
Maßnahmen bei Nicht-Ansprechen auf Pharmakotherapie
- Überprüfung der Diagnose
- Adäquate Behandlungsdauer
- Therapieadhärenz
- Dosis im therapeutischen Bereich
- Serumspiegelbestimmung
- Metabolisierungsbesonderheiten / Genotypisierung
- Wechsel zu oder zur Kombination mit einer Psychotherapie
- Wechsel des Medikamentes:
- Allgemeine Empfehlung: Nach Behandlungsdauer von 4 - 6 Wochen in adäquater Dosis ohne Response sollte ein Medikamentenwechsel erfolgen
- Zeigt sich allerdings nach 4 - 6 Wochen eine partielle Besserung, dann besteht eine Chance, dass es in weiteren 4 - 6 Wochen zu einer weiteren Verbesserung kommt. Deshalb sollte die Therapie zunächst fortgesetzt werden
Maßnahmen bei Nichtansprechen auf Psycho- oder Pharmakotherapie
- Zeigt sich, dass eine Psychotherapie oder Pharmakotherapie nicht ausreichend wirksam ist, soll die jeweils andere Therapieform angeboten werden
- Zeigt sich medikamentös nur eine geringfügige Wirkung, sollte die Dosierung entsprechend angepasst werden und gegebenenfalls die Therapieadhärenz geprüft werden, bevor zu einem anderen Medikament gewechselt wird
Kombinationsbehandlung
- Aufgrund der derzeitigen Studienlage war im Rahmen der S3-Leitlinie keine Aussage möglich, ob eine Kombination von Psychotherapie und Psychopharmakobehandlung wirksamer ist als die jeweilige Monotherapie
- Es kann eine Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie angeboten werden
Psychotherapeutische Behandlung und weitere Verfahren
Tabelle: Nicht-medikamentöse Behandlungsoptionen bei generalisierter Angststörung | ||
Verhaltenstherapie | Psychodynamische Verfahren | Internet-Intervention |
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Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund |
Therapie bei komorbiden psychischen Störungen
- Die Therapieform soll so ausgewählt werden, dass die komorbide Erkrankung gleichzeitig mitbehandelt werden kann
- Bei komorbider Depression soll eine leitliniengerechte antidepressive Therapie erfolgen
- Häufige psychische Komorbidität:
- Abhängigkeitserkrankung
- Persönlichkeitsstörung
- Depressionen
- Weitere Angststörungen
Krankheitsverlauf und Prognose
- Angsstörungen, zu denen auch die generalisierte Angststörung gehört, haben oft einen chronischen Verlauf.
- Bei der generalisierten Angststörung kommt es häufiger zu einem phasenhaften Verlauf.
- Ab der 5. Lebensdekade nimmt die Anzahl von Angststörungen deutlich ab.
Einfluss von Komorbidität psychischer Störungen auf den Verlauf
- Komorbide psychische Störungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, verschlechtern die Ergebnisse der Behandlung
Einfluss von Komorbidität körperlicher Erkrankungen
- Angsterkrankungen sind überzufällig häufig mit folgenden körperlichen Störungen assoziiert:
- Schilddrüsenerkrankungen
- Atemwegserkrankungen
- Arthritis
- Migräne
- Allergieerkrankungen
- Schmerzsyndrome
- Betroffene mit Angststörungen, die zusätzlich eine schwere körperliche Erkrankung entwickeln, haben ein verstärktes Krankheitserleben:
- Verstärktes subjektives Leiden
- Geringeres Copingvermögen
- Verminderte Lebensqualität
- Stärkere psychosoziale Einschränkunge