Deutsche Rentenversicherung

Agoraphobie

Krankheitsbild, Anamnese, Diagnostik, Therapie, Krankheitsverlauf und Prognose
Stand: 27.11.2023

Störungsspezifische Beschreibung

Generelle Aussagen über alle Angststörungen

  • Bei Angststörungen kommt es zu übertriebenen, unrealistischen oder auch grundlosen Reaktionen
  • Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen
  • Lebenszeitprävalenz: 14 - 29 %
  • Sie haben häufig eine hohe Komorbiditätsrate
  • Oftmals zeigt sich ein chronischer Verlauf
  • Die Spontaremissionsrate ist niedrig
  • Sie schränken die Lebensqualität erheblich ein sowohl in sozialer, beruflicher als auch gesellschaftlicher Hinsicht
  • In vielen Fällen sind Angststörungen effektiv behandelbar
  • Die Rezidivneigung trotz entsprechend durchgeführter Pharmakotherapie oder psychotherapeutischer Behandlung ist nicht unerheblich
  • Frauen erkranken deutlich häufiger als Männer; dies ist kulturübergreifend ausgeprägt
  • Die höchste 12-Monats Prävalenz liegt in der Altersgruppe von 18 - 34 Jahren. Die zweithöchste in der Altersgruppe von 35 - 49 Jahren

Krankheitsbeschreibung Agoraphobie F 40.0 (ICD-10)

  • Angst vor bestimmten Orten, an denen im Falle des Auftretens einer Panikattacke ein Vermeidungsverhalten nur schwer möglich ist oder peinliches Aufsehen erregen könnte
  • Am häufigsten treten Panikattacken auf in:
    • Menschenmengen
    • Öffentlichen Verkehrsmitteln
    • Engen Räumen
  • Es bestehen Befürchtungen:
    • Das Haus zu verlassen
    • Geschäfte zu betreten
  • Es besteht Vermeidungsverhalten bezüglich der phobischen Situation

Diagnostische Kriterien nach ICD-10

  • Deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens 2 der folgenden Situationen:
    • Menschenmengen
    • Öffentlichen Plätze
    • Allein reisen
    • Reisen mit weiter Entfernung von zu Hause
  • In den gefürchteten Situationen müssen mindestens 2 Angstsymptome (s. Tabelle) zeitgleich vorhanden gewesen sein
  • Deutliche emotionale Belastung durch das Vermeidungsverhalten oder die Angstsymptome:
    • Die Betroffenen haben die Einsicht, dass das Erleben übertrieben und unvernünftig ist
  • Die Symptomatik beschränkt sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder in Bezug auf die Gedanken an sie

 

Quelle: ICD-10 Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, Hrsg.: Dilling & Freyberger, 8. überarbeitete Auflage, 2016

Tabelle: Symptomatik bei einer Agoraphobie
Vegetative SymptomeSymptome, die Thorax/ Abdomen betreffenPsychische SymptomeAllgemeine Symptome

Palpitationen,
Herzklopfen,
erhöhte Herzfrequenz

Atembeschwerden

 

Gefühl von Schwindel,
Unsicherheit, Schwäche, Benommenheit

Hitzewallungen oder
Kälteschauer

Schweißausbrüche

Beklemmungsgefühle

Derealisationserleben

Gefühllosigkeit oder
Kribbelgefühle

Fein- oder
grobschlägiger Tremor

Thoraxschmerzen und
-missempfindungen

Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden

 

Mundtrockenheit

Nausea oder abdominelle Missempfindungen

Angst zu sterben

 


 

Anamnese

Quelle: ICD-10 Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, Hrsg.: Dilling &Freyberger, 8. überarbeitete Auflage, 2016

Tabelle: Auflistung der störungsspezifischen Anamnese und Therapieoptionen

Störungsspezifische Anamnese

Ambulante und / oder stationäre Behandlungen

  • Zeitlicher Beginn der Angststörung
  • Nutzung und Ansprechen von Therapieoptionen
    • Psychotherapeutische Behandlungen
    • Medikamentöse Behandlungen
    • Weitere therapeutische Behandlungsoptionen
  • Häufigkeit des Auftretens
    • Anfallsartig, Entwicklung über die Zeit

  • Episodendauer

  • Symptomfreie Intervalle / Chronifizierung
  • Auslöser / auslösende Situationen
  • Symptomatik in den jeweiligen Episoden
    (Symptomveränderung, Symptomzunahme)
  • Suizidalität
  • Psychische Komorbidität
  • Somatische Komorbidität
  • Substanzmittelmissbrauch
Quelle: ICD-10 Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, Hrsg.: Dilling & Freyberger, 8. überarbeitete Auflage, 2016

Anbei finden Sie einen Link zu einem Muster für die Anamneseerhebung. Die dort gelisteten Punkte geben Hinweise auf eine vollständige Anamnese, müssen aber nicht bei jedem Krankheitsbild einzeln aufgeführt werden.


 

Diagnostische Maßnahmen

Die körperliche Untersuchung ist auch bei psychosomatischen / psychiatrischen Erkrankungen ein wichtiger Bestandteil im Begutachtungsprozess.

Weitere Informationen: Das ärztliche Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung, DRV-Schrift 21, S.55

Psychischer Befund

  • Ausführliche Beschreibung der individuellen Ausprägung der verschiedenen psychischen Qualitäten nach ärztlicher / psychologischer Einschätzung
  • Verwendung der Terminologie aus:
    • AMDP-System
    • ICF
    • ICD-10
  • Subjektives Krankheitserleben
  • Beschreibung der Persönlichkeitseigenschaften (Vulnerabilitätsfaktoren)

Apparative Diagnostik

Quelle: S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen, AWMF Version 2.0, Stand 2021, Registriernummer 051-028

Tabelle: Möglichkeiten der apparativen Diagnostik

Laborparameter

Weitere apparative Diagnostik

  • Blutbild
  • EKG: Rhythmusstreifen
  • Blutzucker
  • Ggf. EEG
  • Elektrolyte
  • Ggf. Lungenfunktion
  • Schilddrüsenstatus
  • Ggf. CCT, MRT

Testpsychologische Diagnostik

"Case-finding" Fragebögen (Screening-Verfahren)

  • Mini-International Neuropsychiatric Interview (MINI)
  • Patient Health Questionnaire for Depression and Anxiety  (PHQ-4)

Differenzialdiagnostik

Differenzialdiagnostische Abgrenzung zu Angst und depressiver Störung, gemischt F41.2

  • Keine der beiden Störungen ist eindeutig vorherrschend
  • Keine ist für sich genommen eine eigenständige Diagnose
  • Sind die ängstlichen und depressiven Symptome so stark ausgeprägt, dass sie eine jeweilige Diagnose begründen, dann sollen beide Diagnosen gestellt werden und auf die Diagnose F 41.2 verzichtet werden
  • Differenzialdiagnostik Agoraphobie

Differenzialdiagnosen zu anderen psychischen Erkrankungen

  • Andere Angststörungen
  • Zwangsstörung
  • Somatisierungsstörung
  • Depression
  • Anpassungsstörung
  • PTBS
  • Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
  • Abhängigkeitserkrankungen
  • Entzugssyndrom
  • Psychosen

Quelle: S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen, AWMF Version 2.0, Stand 2021, Registriernummer 051-028
Tabelle: Differentialdiagnostik somatische Symptome oder Erkrankungen

Lungenerkrankungen

Herz-Kreislauf-
erkrankungen

Neurologische
Erkrankungen

Endokrine
Störungen

Weitere
Krankheitsbilder

Asthma bronchiale

Angina pectoris

Komplex-partielle
Anfälle

Hypoglykämie

Periphere Vestibularisstörung

Chronisch-
obstruktive
Lungenerkrankung

Myokardinfarkt

Migräne

Hyperthyreose

Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel

 

Synkopen

Migräne accompagnée

Hyperkaliämie

 

 

Arrhythmien

Multiple Sklerose

Hypokalzämie

 

 

 

Tumoren

Akute intermittierende Porphyrie

 

 

 

 

Insulinom

 

 

 

 

Karzinoid

 

 

 

 

Phäochromozytom

 

Komorbidität zwischen Angststörungen (alle Formen) und anderen psychischen Störungen

  • Komorbide weitere Angststörungen
  • Depressionen
  • Somatoforme Störungen
  • Abhängigkeitserkrankungen
  • Persönlichkeitsstörungen
  • Essstörungen
  • Zwangsstörungen

 

Therapieoptionen

Generelles Behandlungsvorgehen

  • Aspekte, die bei den möglichen Behandlungsformen zu berücksichtigen sind:
    • Präferenz des Betroffenen
    • Zeitaufwand
    • Wartezeit
    • Entstehende Kosten
  • Betroffenen mit einer Agoraphobie soll eine Psychotherapie oder Pharmakotherapie angeboten werden
  • Ist die Psychotherapie oder die Pharmakotherapie nicht ausreichend wirksam gewesen, soll jeweils die andere Therapieform den Betroffenen angeboten werden
  • Wenn eine Psychotherapie oder Pharmakotherapie nicht hinreichend wirksam ist, kann eine Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie angeboten werden

Medikamentöse Behandlung

  • Auswahl des Medikamentes: Bei der Auswahl eines Medikamentes soll unter anderem Folgendes berücksichtigt werden:
    • Alter
    • Gegenanzeigen
    • Nebenwirkungsprofil
    • Wechselwirkungen
    • Warnhinweise
    • Toxizität bei Überdosierung
    • Suizidrisiko
    • Notwendige Untersuchungen im Verlauf
    • Gegebenenfalls vorherige Erfahrung des Betroffenen
    • Therapieadhärenz
  • Antidepressiva
    • Eine Behandlung soll mit SSRI oder SNRI (Venlafaxin) erfolgen
    • Clomipramin: Einsatz, wenn die anderen genannten Antidepressiva nicht wirksam sind oder nicht vertragen werden
    • Wirklatenz: 2 - 6 Wochen
  • Benzodiazepine
    • Benzodiazepine sind zwar bei Angststörungen wirksam, sollen jedoch aufgrund der teils erheblichen Nebenwirkungen wie Abhängigkeitsentwicklung nicht angeboten werden. Bei sorgfältiger Risiko-Nutzen-Abwägung können sie zeitlich begrenzt angeboten werden
    • Die Behandlung mit Benzodiazepinen sollte in begründeten Ausnahmefällen nur über wenige Wochen durchgeführt werden. Nach längerer Behandlungsdauer sollten Benzodiazepine sehr langsam (ggf. über mehrere Wochen) ausgeschlichen werden, um Entzugsphänomene zu vermeiden

Quelle: Zusammenfassung aus Quelle: S3-Leitlinie Behandlung von Angststörungen, AWMF Version 2.0, Stand 2021, Registriernummer 051-028
Tabelle: Medikamentöse Behandlung bei Agoraphobie

Substanzklasse

Medikamente

Tagesdosis

Einsatz

SSRI

Citalopram

20 - 40 mg

Soll angeboten werden

SSRI

Escitalopram

10 - 20 mg

Soll angeboten werden

SSRI

Paroxetin

20 - 50 mg

Soll angeboten werden

SSRI

Sertralin

50 - 150 mg

Soll angeboten werden

SNRI

Venlafaxin

75 - 225 mg

Soll angeboten werden

TZA

Clomipramin

75 - 250 mg

Einsatz, wenn SSRI/SNRI keine Wirksamkeit zeigen oder nicht vertragen werden

Dauer der medikamentösen Behandlung

Akutbehandlung

  • Abhängig von der Dauer der Symptomatik

Erhaltungstherapie

  • Nach Eintreten der Remission soll die antidepressive Pharmakotherapie über 6 - 12 Monate weiter fortgeführt werden
  • Die Dauer kann verlängert werden, wenn:
    • Es bei einem Absetzversuch es zu einem Wiederauftreten der Symptomatik kommt
    • Der Krankheitsverlauf besonders ausgeprägt war
    • Die Anamnese des Betroffenen Hinweise beinhaltet, dass eine lange Behandlungsnotwendigkeit besteht
  • Die Dosishöhe in der Erhaltungstherapie entspricht der gleichen Dosierung in der Akuttherapie
    • Die unterschiedlichen Antidepressiva sollten bei Beendigung langsam reduziert werden, um Absetzphänomenen vorzubeugen

Maßnahmen bei Nichtansprechen auf Pharmakotherapie

  • Überprüfung der Diagnose
  • Therapieadhärenz
  • Dosis im therapeutischen Bereich
  • Adäquate Behandlungsdauer
  • Serumspiegelbestimmung
  • Metabolisierungsbesonderheiten / Genotypisierung
  • Wechsel zu oder zur Kombination mit einer Psychotherapie
  • Wechsel des Medikamentes:
    • Allgemeine Empfehlung: Nach Behandlungsdauer von 4 - 6 Wochen in adäquater Dosis ohne Response sollte ein Medikamentenwechsel erfolgen
    • Zeigt sich allerdings nach 4 - 6 Wochen eine partielle Besserung, dann besteht eine Chance, dass es in weiteren 4 - 6 Wochen zu einer Veränderung kommt. Deshalb sollte die Therapie zunächst fortgesetzt werden

Maßnahmen bei Nichtansprechen auf Psycho- oder Pharmakotherapie

  • Sprechen Betroffene nicht auf eine Psychotherapie oder Pharmakotherapie ausreichend an:
    • Soll jeweils die andere Therapieform angeboten werden
    • Kann eine Kombination von Psychotherapie und Pharmakotherapie angeboten werden:
      • Es besteht eine Evidenz für die Kombination zwischen KVT und SSRI
  • Es gibt keine kontrollierten Studien über die Fragestellung, ob nach Nichtansprechen auf ein Psychotherapieverfahren die Umstellung auf eine andere Psychotherapiemethode Erfolg versprechend ist

Therapie bei komorbiden psychischen Störungen

  • Die Therapieform soll so ausgewählt werden, dass die komorbide Erkrankung gleichzeitig mitbehandelt werden kann
  • Bei komorbider Depression soll eine leitliniengerechte antidepressive Therapie erfolgen
  • Häufige psychische Komorbidität:
    • Weitere Angststörungen
    • Depressionen
    • Somatoforme Störungen
    • Abhängigkeitserkrankungen
    • Persönlichkeitsstörungen

Kombinationsbehandlung

  • Die Entscheidung, ob eine Kombinationsbehandlung von Psychotherapie und psychopharmakologischer Therapie durchgeführt werden soll, ist abhängig von:Ausprägungsgrad der Symptomatik
    • Ausprägungsgrad der Symptomatik
    • Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigungen
    • Präferenz des Betroffenen
  • Es besteht eine Evidenz für die Kombination von Kognitiver Verhaltenstherapie sowie SSRI

Psychotherapeutische Behandlung und weitere Verfahren

Verhaltenstherapie

  • Betroffenen soll eine Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) angeboten werden
  • Die KVT soll sich an empirisch fundierten Behandlungsmanualen orientieren
  • Über die Dauer der Therapie kann angesichts der jetzigen Studienlage keine evidenzbasierte Aussage gemacht werden:
    • Eine gute Wirksamkeit zeigt sich bei einem Behandlungszeitraum von 10 - 25 Therapiestunden
  • Bei Vorliegen von agoraphobischem Vermeidungsverhalten sollen Expositionselemente einbezogen werden
  • Die Expositionsbehandlung sollte in Begleitung eines Therapeuten / einer Therapeutin angeboten werden
  • Die KVT kann als Gruppentherapie angeboten werden
  • Die KVT beinhaltet folgende Aspekte:
    • Psychoedukation
    • Kognitive Vorbereitung
    • Interozeptive Exposition / Exposition
    • Abbau von Absicherungsverhalten
    • Rückfallprophylaxe

Psychodynamische Verfahren

  • Psychodynamische Verfahren kommen in Betracht, wenn sich die KVT als nicht wirksam gezeigt hat, sie nicht verfügbar ist oder die informierten Betroffenen eine entsprechende Präferenz haben
  • Die psychodynamische Psychotherapie soll sich an empirisch fundierten Manualen orientieren
  • Es liegen keine fundierten Angaben über die notwendige Therapiedauer vor

Internet-Intervention

  • Ggf. kann zur Überbrückung bis zum Therapiebeginn oder als therapiebegleitende Maßnahme eine KVT-basierte Internet-Intervention als Anleitung zur Selbsthilfe angeboten werden; sie soll nicht die alleinige Behandlungsmaßnahme darstellen


 

Krankheitsverlauf und Prognose

  • Angststörungen, zu denen die Agoraphobie gehört, haben oft einen chronischen Verlauf
  • Ab der 5. Lebensdekade nimmt die Anzahl von Angststörungen deutlich ab

Einfluss von Komorbidität psychischer Störungen auf den Verlauf

  • Komorbide psychische Störungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, verschlechtern die Ergebnisse der Behandlung

Einfluss von Komorbidität körperlicher Erkrankungen

  • Angsterkrankungen sind überzufällig mit folgenden körperlichen Störungen assoziiert:
    • Schilddrüsenerkrankungen
    • Atemwegserkrankungen
    • Arthritis
    • Migräne
    • Allergieerkrankungen
  • Betroffene mit Angststörungen, die zusätzlich eine schwere körperliche Erkrankung entwickeln, haben ein verstärktes Krankheitserleben:
    • Verstärktes subjektives Leiden
    • Geringeres Copingvermögen
    • Verminderte Lebensqualität
    • Stärkere psychosoziale Einschränkungen