Untere Extremität
Eine orthopädische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung kann erforderlich werden, wenn ein Antrag auf eine medizinische oder berufliche Rehabilitation oder eine Rente wegen Erwerbsminderung mit einer Erkrankung des Bewegungsapparates begründet wird. Dabei sind Verletzungen der unteren Extremität häufig und sehr variabel und können beispielsweise bei Hochrasanz-traumata auch lebensbedrohlich werden. Eine gute Funktionalität und eine ausreichende Kraftentfaltung sind für den Einsatz der unteren Extremität im Alltag wie im Erwerbsleben wesentlich. Eine funktionale Mobilität ist darüber hinaus ein wichtiger Prädiktor der Lebensqualität.
Eine Beeinträchtigung der Gelenkfunktionalität der unteren Extremität kann Kompensationsmechanismen erfordern und die Kraftentfaltung und Stabilität reduzieren. Auch ein chronisches Schmerzsyndrom nach komplexen Verletzungen, Nervenschäden (z. B.: direkte Verletzung, Folge Kompartmentsyndrome) oder komplexe Frakturen führen häufig zu langfristigen Funktionseinschränkungen.
Eine eingeschränkte Funktion der unteren Extremität kann in bestimmten Berufsfeldern mit qualitativen und quantitativen Einschränkungen des Leistungsvermögens im Erwerbsleben einhergehen. Diese betreffen oftmals die Arbeitshaltung, die dann überwiegend im Sitzen eingenommen werden kann, die Arbeit mit Anforderungen an Gang- und Standsicherheit, Tätigkeiten im Knien, Hocken und / oder Bücken, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie die Exposition von Witterungseinflüssen sollte reduziert werden.
Anamnese und allgemeine Untersuchung
Die körperliche Untersuchung sollte bei einem bis auf die Unterwäsche entkleideten, stehenden und im Verlauf sitzenden und liegenden Versicherten erfolgen, die Untersuchungsliege sollte dabei von beiden Seiten frei zugänglich sein. Ärztliche Beobachtungen (hinsichtlich der Bewegungsabläufe) während der Untersuchung sind zu dokumentieren und das Ergebnis in die Begutachtung miteinzubeziehen. Sie können zur Plausibilitätsbeurteilung herangezogen werden. Zunächst sollte eine orientierende Untersuchung des Allgemeinzustandes erfolgen.
Die traumatologisch-orthopädische Anamnese sollte eine detaillierte Erkrankungs- und Therapieanamnese des Bewegungsapparates beinhalten.
Schwerpunktfragen dabei sind:
- Frühere Erkrankungen des Bewegungsapparates (z. B. Hüftdysplasie, Tumore, Verletzungen, Operationen)
- Unfallhergang: Was ist wann, wo und wie passiert? Erstmaliges Auftreten? Fortschreitender Erkrankungsverlauf?
- Mechanische / Muskuloskelettale Funktionseinschränkung
- Instabilitätsgefühl
- Welche Therapien wurden und werden durchgeführt?
- Detaillierte Schmerzanamnese: Schmerzcharakter, auslösenden Faktoren, Schmerzstärke, bisherige Behandlungen etc. (Schmerzanamnese s. Kapitel chronische Schmerzen)
- Aktivitätsniveau: Beruf? Familie? Sport? Freizeit?
- Gehstrecke? Mobilität? Hilfsmittel (z. B. Gehhilfen)?
- Mechanische Phänomene? (Einklemmungsgefühl? Schnappen? Blockade? Krepitation?)
- Beschreibung der funktionellen Einschränkungen (z. B. Schwierigkeiten beim Treppensteigen oder Anziehen von Schuhen, Beschwerden beim tiefen Sitzen)
- Regelmäßige Medikation und Bedarfsmedikation (Schmerzmedikation, ASS, orale Antidiabetika, Marcumar, Steroide etc.)
- Familienanamnese
- Anamnese zu Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises
- Psychische Belastungssituation durch die Verletzung / Funktionsstörung
- Nebenerkrankungen (bei diversen Schmerzphänomenen organische Erkrankungen ausschließen)
Fachspezifische körperliche Untersuchung
Inspektion
- Standbild, Körper- / Gelenkhaltung: aufrecht, gebeugt, Schonhaltung
- Gangbild, Zehengang, Fersengang, Einbeinstand, Einnehmen des tiefen Hocksitzes, Aufrichten aus gebückter Körperhaltung, Abrollvorgang des Fußes
- Gehstrecke
- Treppen steigen
- Beckenstand, Michaelisraute, Spinae auf einer Höhe (resultierender Wirbelsäulenverformung als Folge Beckenschiefstand), Glutealfalten, Kniebeugefalten
- Fehlstellungen, Deformitäten, Kontrakturen, Verkürzungen
- Achsenfehlstellungen (Varus /Valgus)
- Hautverhältnisse: intakt, Schürfungen / Wunden, Rötungen, Hämatome, Blässe, Narben, Varizen, Schwellungen, Haarwuchs, Verschwielung / Verhornung, Infektionen, Ulcera
- Mechanische Phänomene: Schnappen, Blockaden, Krepitationen
- Muskelatrophien im Seitenvergleich
- Hilfsmittel
- Inspektion der Schuhsohlen (Abnutzungszeichen als Hinweis für Fehlbelastungen)
Tabelle: Pathologische Inspektionsbefunde | ||
Befund |
Definition |
Pathophysiologie |
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Muskelatrophie |
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Kontrakturen |
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Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund |
Fortsetzung Tabelle: Pathologische Inspektionsbefunde, hier: Befund "Unwillkürliche Muskelaktivität" | ||
Befund |
Definition |
Pathophysiologie |
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Faszikulationen |
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Myoklonien |
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Hyperkinesien |
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Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund |
Das Gangbild
- Beurteilung von der Standbein- und Schwungphase (flüssig, kleinschrittig, unsicher)
- Schrittweite, Gehgeschwindigkeit
- Wichtig ist die Unterscheidung, ob die Gangstörung symmetrisch oder asymmetrisch ist.
- Verkürzungshinken
- Besteht eine Beinlängendifferenz so senkt sich das Becken während der Standbeinphase des kürzeren Beines ab.
- Schonhinken
- kurze Standbeinphase aufgrund von Schmerzen.
- Versteifungshinken
- Vorbringen des Beines nur durch Drehung des Beckens möglich.
- Hinken bei peripherer Lähmung
- Dabei muss das Bein in der Schwungbeinphase hochgehoben werden, damit die hängende Fußspitze nicht am Boden schleift. Die Fußspitze wird zuerst aufgesetzt (Steppergang).
- Hüfthinken
- Durch insuffiziente Muskulatur der Standbeinseite sinkt das Becken auf der Schwungbeinseite ab (Trendelenburg-Hinken) oder der Oberkörper wird auf die Gegenseite geneigt (Duchenne-Hinken)
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Palpation
Im Rahmen der Palpation lassen sich auch Temperaturunterschiede der Haut feststellen. Mechanische Phänomene (aus der Anamnese) können ertastet werden. Die Palpation umfasst Knochenpunkte, Sehnenansätze und Weichteilstrukturen.
Dabei sollte auf Druckschmerzhaftigkeit, Schwellung, Verhärtungen und Funktionalität geachtet werden, z. B.:
- Knochenpunk
- telateraler und dorsaler Trochanter major, Spinae iliacae
- Kniegelenksspalt, Condylen, Epikondylen, Tuberositas tibiae, Patella
- Malleolen, Fußknochen
- Tendinae (Insertionstendinopathie), Ligamentae, Capsulae
- Muskulatur
- Weichteile (Gelenkerguss, Ödem, Tumor)
- Stabilitätsprüfung
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Bewegungsausmaße
Tabelle: Bewegungsausmaße | ||
Art der Bewegung | Grad der Bewegung | |
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Bewegungsmaße des Hüftgelenkes |
Extension / Flexion |
5-10° / 0°/ 110°-130° |
Abduktion / Adduktion |
30-45° / 0° / 20-30° | |
Außenrotation / Innenrotation |
Rückenlage Hüfte gebeugt 90° |
40-50° / 0° / 30-45° |
Bewegungsmaße des Kniegelenkes |
Extension/Flexion |
10° / 0° / 130° |
Außenrotation / Innenrotation in Rückenlage bei 90° gebeugtem Knie |
25° / 0° / 10° | |
Bewegungsausmaße des Sprunggelenkes |
Dorsalflexion / Plantarflexion |
20° / 0° / 40° |
Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund |
Umfangsmessung
Als Referenzlinie zur Abstandsmessung dient zumeist der Gelenkspalt.
- 10 oder 20 cm oberhalb Kniegelenkspalt
- Kniescheibenmitte
- 15cm unterhalb Kniegelenkspalt
- Unterschenkel, kleinster Umfang
- Knöchelgabel
- Rist über Kahnbein
- Vorfußballen
Längendifferenzen
- Beinlängenmessung von der Spina iliaca anterior superior zum Malleolus lateralis
- Es ist zu unterscheiden, ob eine echte Beinverkürzung vorliegt (z. B. Hüftkopfnekrose oder verkürzter Schenkelhals) oder eine funktionelle Beinverkürzung oder variable Beinlängendifferenz bei einer Beckenverwringung (Beuge- oder Adduktionskontraktur).
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Untersuchung der Motorik
Tonus
Der Muskeltonus wird als Widerstand gegen passive Beuge- und Streckbewegung getestet.
Der Patient lässt die Extremität entspannt und es wird in unterschiedlichen Tempi und für den Patienten nicht vorhersehbar, in den Gelenken gebeugt oder gestreckt.
Grobe Kraft
Die Muskelkraft wird systematisch für die wichtigsten Bewegungen geprüft. Abhängig von der Fragestellung müssen gezielt einzelne Muskelgruppen getestet werden.
Die Quantifizierung der Paresen erfolgt nach der BMRC (British Medical Research Council) -Skala:
- 5 = volles Bewegungsausmaß gegen starken Widerstand (ca. 100 %)
- 4 = volles Bewegungsausmaß gegen leichten Widerstand (ca. 75 %)
- 3 = volles Bewegungsausmaß gegen die Schwerkraft (ca. 50 %)
- 2 = volles Bewegungsausmaß ohne Einwirkung der Schwerkraft (ca. 25 %)
- 1 = sicht- und / oder tastbare Muskelaktivität, kein volles Bewegungsausmaß (ca. 10 %)
- 0 = komplette Lähmung, keine Kontraktion
Tabelle: Beispielhafte Untersuchungen im Bereich des Hüftgelenkes | ||
Name des Tests |
Klinische Durchführung und Symptomatik |
Diagnostischer Hinweis auf: |
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Trendelenburg-Zeichen |
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Duchenne-Zeichen |
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Mennell-Zeichen |
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Thomas-Test |
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Vierer-Zeichen |
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Drehmann‘sches Zeichen |
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Axialer Stauchungsschmerz |
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Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund |
Tabelle: Beispielhafte Untersuchungen im Bereich des Kniegelenkes | ||
Name des Tests |
Klinische Durchführung und Symptomatik |
Diagnostischer Hinweis auf: |
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Tanzende Patella |
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Steinmann-I-Zeichen
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Steinmann-II-Zeichen |
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Böhler-Krömer-Test |
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Payr-Zeichen |
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Mc Murray-Zeichen |
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Vagus-/ Valgus-Stress |
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Lachman-Test |
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Schubladentest |
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Pivot- Shift Test |
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Apley-Grinding-Test |
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Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund |
Tabelle: Beispielhafte Untersuchungen im Bereich des Sprunggelenks | ||
Name des Tests |
Klinische Durchführung und Symptomatik |
Diagnostischer Hinweis auf: |
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Klaiger-Test |
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Schubladentest |
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Varus-Stresstest (Talar-Tilt-Test) |
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Thompson-Drucktest |
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Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund |
Tabelle: Reflexe | |
Muskeleigenreflexe | Pathologische Reflexe |
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Der auslösende Reiz ist eine Dehnung des Muskels mit Aktivierung der Muskelspindel, die Reizantwort ist die Kontraktion des Muskels. Dieser Reflex ist nicht ermüdbar. Zu prüfen sind:
Bei nicht oder nur schwach auslösbaren Beinreflexen kann durch den Jendrassik-Handgriff das Reflexverhalten leichter geprüft werden. Dabei verschränkt der Patient seine Hände vor dem Oberkörper und zieht diese kräftig auseinander, während der Untersucher die Beinreflexe testet. |
Diese Fremdreflexe sind ein sicheres Zeichen einer Störung der zentral motorischen Bahnen und werden deshalb auch Pyramidenbahnzeichen genannt. Es kommt zu einer tonischen Dorsalextension der Großzehe bei gleichzeitiger Plantarflexion der übrigen Zehen.
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Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund |
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Sensibilität
Allgemeine Hinweise zur Untersuchung der Sensibilität:
- Patient sollte die Augen während der Untersuchung geschlossen halten
- Untersuchung immer im Seitenvergleich
- Erhebung der Befunde immer in Bezug zu radikulären Dermatomen und sensiblen Innervationsgebiet peripherer Nerven
- Vermeidung von Suggestivfragen
Tabelle: Sensible Qualitäten | ||
Sensible Qualität |
Pathologischer Befund |
Definition |
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Berührungsempfinden |
Hypästhesie |
Verminderte Wahrnehmung nicht schmerzhafter Berührungsreize |
Anästhesie |
Fehlende Wahrnehmung nicht schmerzhafter Berührungsreize | |
Hyperästhesie |
Verstärkte Wahrnehmung nicht schmerzhafter Berührungsreize | |
Allodynie |
Missempfindung im Sinne einer falschen qualitativen Wahrnehmung von Berührungsreizen | |
Parästhesie |
Missempfindung wie Taubheit, Brennen oder Kribbeln, auch ohne Reizung. | |
Vibrationsempfinden |
Pallhypästhesie |
Herabgesetztes Vibrationsempfinden |
Pallanästhesie |
Fehlendes Vibrationsempfinden | |
Schmerzempfinden |
Hypalgesie |
Verminderte Schmerzwahrnehmung |
Analgesie |
Fehlende Schmerzwahrnehmung | |
Hyperalgesie |
Übermäßige Schmerzwahrnehmung | |
Temperaturempfinden |
Thermhypästhesie |
Verminderte Temperaturwahrnehmung |
Termanästhesie |
Fehlende Temperaturwahrnehmung | |
Quelle: Eigene Darstellung, Deutsche Rentenversicherung Bund |
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Durchblutung
- Tasten der Pulse: A. femoralis (Leistenpuls), A. poplitea, A. tibialis posterior (hinter Malleolus med.), A. dorsalis pedis (Vorfußrücken zwischen D1 und D2)
- Venöse Insuffizienz
- Hautkolorit und Temperatur
- Rekapillarisierungszeit
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Bildgebende Verfahren
Röntgen
Röntgenuntersuchungen sind nicht erforderlich, wenn
- die klinischen Befunde die Einschränkungen ausreichend dokumentieren und es erlauben eine entsprechende Funktionsdiagnose zu stellen,
- aus den überlassenen medizinischen Unterlagen der Umfang der Funktionsdefizite bereits erkennbar ist,
- die Beurteilung der Leistungsfähigkeit schon durch den klinischen Befund erfolgen kann oder
- keinerlei Hinweise auf eine organbezogene Leistungseinschränkung bestehen.
Röntgenuntersuchungen können nur erforderlich sein, falls die entsprechenden Beschwerden neu sind und noch nicht zu einem Arztkontakt geführt haben.
Zu prüfen und aktiv zu erfragen ist auch, ob und zu welchem Zeitpunkt bereits radiologische Untersuchungen der betroffenen Region durchgeführt wurden.
Sonographie
- Befundung der Weichteile und Gelenke.
- Die Sonografie ist zur Beurteilung von weichteilbezogenen Fragestellungen gut geeignet. Allerdings ist die untersucherabhängige Reproduzierbarkeit und Qualität zu beachten.